Klara Niemann
Haltung beziehen
Forschung am Nachlass der Fotografin Angela Neuke (1943–1997)
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 176, 2025
Als die Fotojournalistin und Hochschulprofessorin Angela Neuke 1997 mit 53 Jahren auf Forschungsreise bei einem Flugzeugabsturz verstarb, blieb ihr Büro an der Universität-Gesamthochschule Essen und ihr gesamtes fotografisches Werk so zurück, wie sie es bei ihrem Aufbruch verlassen hatte. Über Kontakt zum damals am Rheinischen Landesmuseum, heute LVR-LandesMuseum, tätigen Ausstellungsmacher Klaus Honnef ging dieser gänzlich ungefilterte Nachlass als Dauerleihgabe nach Bonn[1] und lagerte dort nur ansatzweise erschlossen über Jahrzehnte im Depot. Erst mit der Überführung in den Sammlungsbesitz 2021 wurde die Bearbeitung des gesamten Bestandes aufgenommen und für 2023/2024 eine Projektstelle des landesgeförderten Programms Forschungsvolontariat Kunstmuseen NRW eingeworben.[2] Ziele dieser Forschungsetappe waren, den Bestand erstmals umfänglich zu sichten, Strategien der Zugänglichkeit auszuprobieren und grundlegende Aspekte von Angela Neukes Wirken – ihre Bildsprache, ihre fotojournalistische Praxis sowie ihren Einfluss auf das Fach der Bildjournalistik – herauszuarbeiten. Doch wie nähert man sich Leben und Werk einer Person, die ihrer Geschichte aufgrund des frühen Unfalltods nur bedingt eine eigene Erzählung geben konnte?
Beginning from scratch
Der Nachlass Angela Neukes in der fotografischen Sammlung des Bonner Landesmuseums stellt sich heterogen und umfangreich dar. Allein der fotografische Bestand umfasst ein chronologisch geordnetes Negativarchiv von jeweils über 4.000 Bögen abgehefteter Filmstreifen und Kontaktabzüge sowie tausende Prints, darunter teilweise bis zu zehn Ausführungen eines einzelnen Farbmotivs. Daneben haben sich Archivalien wie vereinzelte Korrespondenzen, Lebensdokumente und verbliebene Hochschulakten erhalten. Zudem existierte bei Projektaufnahme abgesehen von knappen Notizen in Ausstellungskatalogen keine Biografie der Fotografin. Bekannt waren lediglich die wichtigsten Stationen: Selbst von 1963 bis 1966 in Essen durch die Schule Otto Steinerts gegangen, arbeitete Angela Neuke zunächst überwiegend als freiberufliche Fotoreporterin. Ab 1980 wirkte sie als Professorin für Bildjournalistik und Illustrationsfotografie im Essener Fachbereich für Fotografie, der erst kurz zuvor von der Folkwangschule an die Uni transferiert worden war. Während der Lehrtätigkeit entwickelte sie eigene Kriterien für eine fotojournalistische Bildgestaltung. Mitte der 1980er Jahre, als journalistische Fotografie in Magazinen und Zeitungen noch überwiegend in Schwarz-Weiß erschien, setzte Neuke Farbe, Blitz und Mittelformatkamera ein, um Haltung zu beziehen, diese subjektive Perspektive als solche zu vermitteln und sich von der konkurrierenden Werbefotografie abzusetzen. In ihrer international rezipierten Arbeit Staatstheater – Mediencircus (1985-1990) wendete Neuke diesen Ansatz an, um die Annäherungspolitik zwischen Ost und West, zumeist in Form der Gipfeltreffen zwischen Ronald Reagan und Michail Gorbatschow, zu begleiten. Dabei richtete sie ihre Kamera nicht nur auf die zentralen Akteur*innen und Geschehnisse, sondern mal direkt, mal dezenter auf die rahmende Staffage und den Presseapparat. Durch die harte, zuweilen grelle Wirkung ihrer fortan präferierten Stilmittel entlarvt Neuke kritisch die orchestrierte mediale Inszenierung des Politbetriebs. Sie selbst beschrieb im Rückblick: „[…] ich wollte meine Bilder in einer durch Fernsehnachrichten definierten Wirklichkeit noch darüber hinausgehend schärfer formulieren.“[3] Unabgeschlossen blieb das nachfolgende, zu Beginn der 1990er Jahre aufgenommene Projekt zur Bestandsaufnahme indigener Bevölkerungsgruppen unter einem wachsenden globalen Einfluss der Industriestaaten.[4]
Welche Themensetzungen und Arbeitsweise verfolgte Angela Neuke aber beispielsweise vor der Professur als Freiberuflerin? Abgesehen von der beschriebenen, durch Ausstellungskataloge bereits ansatzweise diskutierten und eingeordneten Werkgruppe gibt es viele Fragestellungen, denen der Nachlass zuerst mit einer erschlagenden Materialmenge begegnet. Als wahrer Glücksfall für die werkbiografische Orientierung hat sich somit die detaillierte Ordnerstruktur von Neukes Arbeitsarchiv erwiesen, in dem die Fotografin beispielsweise akribisch ihre publizierten Bilder verzeichnete.[5] Eine quantitative Analyse der Veröffentlichungszahlen im dokumentierten Zeitraum zwischen 1963 und Beginn der 1990er Jahre offenbart eine enge Verzahnung von persönlichen Lebensumständen und Schaffensphasen: Ein Beispiel sind niedrige Mengen von Publikationsnachweisen in den Jahren 1970 bis 1973, den Geburtsjahren von Neukes Töchtern. Zudem belegt die Häufigkeit von Veröffentlichungen in den Zeitschriften Emma (14 Prozent) und Brigitte (28 Prozent von 143 nachgehaltenen Veröffentlichungskontexten) die Gewichtigkeit von „Frauenthemen“ in ihrer freien Arbeit und ihre aktive Begleitung der Neuen Frauenbewegung in den 1970er Jahren. Das Wissen um die (links-)feministische Positionierung ist relevant, um die Perspektive und Intention der engagierten und um Haltung bemühten Bildjournalistin nachzuvollziehen. Auch als Maxime ihrer Lehre betonte Neuke die Bedeutung, eine eigene Sichtweise zu entwickeln, die erkenntlich Stellung bezieht und gleichzeitig für die Betrachtenden „Wirklichkeitsinterpretationen offen“ lässt.[6]
Die Streitbare
Offen bleibt ferner, in welcher Wechselwirkung Lehre und fotografische Entwicklung Neukes standen. Schließlich fand sie im Hochschulumfeld zu ihrer prägnanten Bildsprache und dem Wechsel zur Farbe. Um dieser Frage nachzuspüren, werden seit 2024 Interviews mit Studierenden und Kolleg*innen aus Neukes Umfeld als ergänzendes Quellenmaterial aufgenommen.
Bisher machen die Gespräche zwei Aspekte deutlich: Erstens spielte die Verfügbarkeit des um 1980 bundesweit führenden Farblabors in der Essener Hochschule eine entscheidende Rolle für Neukes stilistische Entwicklung. Auch Material und Arbeitskraft standen ihr kostenlos zur Verfügung. So war es der Fotograf Michael Jostmeier, damals unterrichtstechnischer Leiter im Fachbereich, der ihre großformatigen Ausstellungsprints anfertigte. Ihm (und für spätere Projekte auch anderen) verlangte Neuke viel Fingerspitzengefühl für den aufwändigen Entwicklungsprozess ab, um aus den stilistisch überblitzten Bildern alle relevanten Details „herauszukitzeln“. In der „Materialschlacht“ der wiederholten Entwicklungsprozesse einzelner Motive entstanden unzählige Prints, die sich lediglich durch leichte Farbnuancen und heller oder dunkler ausgearbeitete Partien unterscheiden.[7] Eine herausfordernde Anzahl dieser ist im Nachlass erhalten, kann aber dank den in den Interviews nachvollzogenen Bewertungskriterien nun entsprechend bearbeitet werden. So können etwa Neukes Farbpräferenz im Grundton der Abzüge für Ausstellungen respektiert oder im Vergleich Produktionsprozesse und ästhetische Entscheidungen sichtbar gemacht werden.
Zweitens scheiden sich die Geister an der Persönlichkeit Angela Neuke und der Bewertung ihrer Arbeit. Nur einige Protagonist*innen sind überhaupt zu einem dokumentierten Gespräch bereit. Entgegen Neukes Plädoyers für die notwendige Entwicklung einer eigenen Bildsprache, monieren viele Studierende der späteren 1980er und 1990er Jahre, sie habe ihre Lösungswege bis zum Dogmatismus verfolgt und in der Lehre nicht zur Diskussion gestellt. Auf der anderen Seite aber werden Neukes starke Haltung und ihr Durchsetzungsvermögen geschätzt. Positiv wird ihr Einsatz erinnert, beispielsweise in Form der nach einem kleinen Seminarraum benannten Ausstellungsreihe „R11V03H“. Auch eine neue Dynamik im Lehrbetrieb wie eine rege Vortragstätigkeit und die Organisation von Symposien kann teilweise auf Neuke zurückgeführt werden. Beispiele sind Besuche von Garry Winogrand, Robert Lebeck oder Rudi Meisel zu einem Werkstattbericht und gemeinsamer Diskussion von Bildern der Studierenden.
Die Erforschung von Werk, Arbeitsweise und Lehre Angela Neukes ist eine Übung in Ambiguitätstoleranz: Die Fotografin bleibt vorerst schwer greifbar, zuweilen widersprüchlich und streitbar. Doch gerade durch die kontroversen Bewertungen ihrer Person und Arbeit wird sie zum Kristallisationspunkt fotohistorisch relevanter Streitgespräche und Debatten, an dem unterschiedliche Standpunkte der 1980er und 1990er Jahre an Trennschärfe gewinnen. Eine multiperspektivische Betrachtung und Vermittlung der fortzusetzenden Forschung ist unbedingt beizubehalten und macht neugierig auf weitere Entdeckungen im Nachlass. Eine Ausstellung im LVR-LandesMuseum Bonn ist anlässlich Angela Neukes 30. Todestages für das Jahr 2027 geplant.
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[1] Klaus Honnef zeigte Arbeiten von Neuke in zwei Ausstellungen im Rheinischen Landesmuseum: Erstmals 1981/82 im Kontext der umfangreichen Ausstellung Lichtbildnisse. Das Porträt in der Fotografie sowie 1989 zu ihrem Projekt Staatstheater – Mediencircus.
[2] Vgl. Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen: Forschungsvolontariat Kunstmuseen NRW, 2024: www.mkw.nrw/themen/kultur/kunst-und-kulturfoerderung/forschungsvolontariat-kunstmuseen-nrw (Zugriff: 11.1.2025).
[3] Norbert Weigend, Angela Neuke: Die Wirklichkeit ist subjektiv, in: Essener Unikate. Berichte aus Forschung und Lehre, 2. Jg., Heft 3, 1993, S. 68-79, hier S. 75.
[4] Vgl. Klara Niemann: „Ich gehe einen anderen fotografischen Weg“. Eine kurze Biografie der Fotografin Angela Neuke, 2023: lvrlandesmuseumbonn.wordpress.com/2023/06/22/ein-leben-fur-den-fotojournalismus/ (Zugriff: 11.1.2025).
[5] Der zentrale Findordner wurde digitalisiert und in den Online-Katalog der Bibliothek des LVR-LandesMuseum Bonn aufgenommen: lbsvz3.gbv.de/DB=15/XMLPRS=N/PPN (Zugriff: 11.1.2025).
[6] Vgl. Petra Olschweski, Angela Neuke: Ein Stück weit kann man das vielleicht lernen ... foto-scene Interview zum Thema Bildjournalismus mit Angela Neuke-Widmann, Professorin an der Gesamthochschule Essen, in: foto-scene, 2. Jg., Heft 16, 1981, S. 13-15, hier S. 13.
[7] Vgl. Interview mit Michael Jostmeier, 12.12.2024.
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