Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Eckhardt Köhn

Metropolen des Exils

London und New York als fotografische und künstlerische Drehscheiben der Emigration

Burcu Dogramaci: Exil London. Metropole, Moderne und künstlerische Emigration, Göttingen: Wallstein Verlag, 2024, 596 S., zahlreiche Abb. in Farbe und S/W, 16,5 x 24 cm, gebunden mit Schutzumschlag, 48 Euro.

Helene Roth: Urban Eyes. Deutschsprachige Fotograf*innen im New Yorker Exil in den 1930er- und 1940er- Jahren, Göttingen: Wallstein Verlag, 2024, 493 S., zahlreiche Abb. in Farbe und S/W, 15,5 x 23 cm, gebunden mit Schutzumschlag, 48 Euro.

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 176, 2025

 

Im Jahr 2002 erschien der von Klaus-Dieter Krohn und Lutz Winckler herausgegebene Sammelband Metropolen des Exils. Es war ein erster Versuch, das tragische Kapitel der Emigration deutscher Künstler unter dem Aspekt zu rekonstruieren, wie die Orte ihrer Zuflucht, in der Regel die großen Metropolen, die jeweiligen Lebensbedingungen und Arbeitszusammenhänge geprägt haben und das neue Umfeld in ihren Werken thematisch wurde. Mit dem Buch von Burcu Dogramaci liegt nun eine umfassende Studie zu London als Ort des Exils vor, im Kern allerdings auch ein Sammelband, der frühere Beiträge der Autorin zu diesem Komplex zusammenführt. 15 der insgesamt 21 Kapitel basieren auf Arbeiten, die bereits zuvor gedruckt wurden.  

Den Zusammenhang zwischen den Texten soll, wie im Prolog formuliert, der methodische Rückgriff auf neuere Erkenntnisse der postmigrantischen Forschung stiften, eine metropolitane Perspektive „den Blick auf die Interaktion zwischen emigrierten und lokalen Kunstschaffenden im urbanen Kontext Londons“ lenken. Die Einzelstudien behandeln Architektur, bildende Künste, Textildesign sowie Verlage, Galerien und Zeitungen, also jene Institutionen, die von oder für Emigranten organisiert wurden und für deren Existenzsicherung ebenso wichtig waren wie die Sichtbarmachung der deutschen Exilkultur in Großbritannien.

Ein Schwerpunkt des Buches liegt auf fotogeschichtlichen Aspekten, denen fünf Kapitel gewidmet sind. Gewürdigt werden Helmut Gernsheims frühe Arbeiten als Fotograf, der im Auftrag des „National Building Record“ von Zerstörung bedrohte Bauwerke in London und Umgebung aufnahm, dabei jedoch einen höchst eigenwilligen Stil entwickelte, indem er, statt der üblichen flächigen Auffassung von Skulpturen zu folgen, sie mit Licht modellierte, um sie auf diese Weise zu verlebendigen. Später attackierte er in seinem 1942 erschienenen Buch New Photo Vision die britische Foto-Ästhetik, die immer noch sehr stark der Tradition des weichzeichnenden Piktorialismus verhaftet war, und hielt ihm die Leistungsfähigkeit der spezifischen Mittel des technischen Mediums entgegen. Ausführlich wird die Entwicklung der Tierfotofotografie am Beispiel des Londoner Zoos dargestellt, dessen neue Architektur vor allem durch fotografische und filmische Arbeiten von emigrierten Künstlern popularisiert wurde, etwa durch Moholy-Nagys Kurzfilm The New Architecture and the London Zoo.

In einem instruktiven Kapitel über „Stefan Lorant und die Fotograf:innen der Picture Post“ legt die Autorin dar, wie es dem ehemaligen Redakteur der Münchner Illustrierten Presse gelang, in den von ihm gegründeten Zeitschriften Weekly Illustrated, Picture Post und Liliput  sowohl an die in Deutschland entwickelten Bildstrategien anzuknüpfen als auch das Seiten-Layout und die Prägnanz des  visuellen Vokabulars weiterzuentwickeln. Zudem glückte es ihm als genialem Netzwerker, hervorragende Fotografen wie Felix H. Man, Tim Gidal oder Kurt Hutton (vormals Kurt Hübschmann) als Mitarbeiter zu gewinnen. Schließlich wird in aller Deutlichkeit herausgestellt, dass London auch als Ort angesehen werden muss, an dem mehrere Pionierarbeiten zur Historiografie der frühen Fotografie entstanden, eben nicht nur Lucia Moholys bekanntes Werk A Hundred Years of Photography 1839–1939, sondern auch eine seit 1941 von Andor Kraszna-Krausz herausgegebene mehrbändige Buchreihe unter dem Titel Classics of Photography. A History of Photography in Photographs eine didaktisch orientierte „Sehschule“, die „für Qualität und Ästhetik der Klassiker sensibilisieren sollte.“ Später werden ebenfalls in London die einschlägigen fotohistorischen Darstellungen von Helmut Gernsheim publiziert.

Angesichts der Bedeutung ihres fotografischen Werkes hätte man sich eine etwas eingehendere Beschäftigung mit Leben und Werk von Bill Brandt und Kurt Hutton gewünscht. Erstaunlich zudem, dass der Fotograf Karl Schenker nur ganz am Rande, der Fotopublizist Willy Frerk überhaupt nicht erwähnt wird und in der sehr umfangreichen Bibliografie die 1997 erschienene, bahnbrechende Arbeit zur fotografischen Emigration von Klaus Honnef und Frank Weyers Und sie haben Deutschland verlassen …  müssen. Fotografen und ihre Bilder 1928-1997 nicht erscheint. Störend bei der Lektüre sind die zahlreichen Wiederholungen, wie überhaupt ein grundsätzliches Problem der Darstellung darin liegt, dass im Haupttext viel zu wenig zwischen Wichtigem und Nebensächlichem unterschieden wird, das in den Anmerkungsteil gehört hätte. Dass zahlreiche der ermittelten Dokumente abgebildet werden, kommt der umfangreichen Darstellung von nicht weniger als 596 Seiten zugute. Wichtige Quellen wie etwaige Akten zu Wiedergutmachungsverfahren der aus Deutschland emigrierten Fotografen und Fotografinnen scheinen hingegen nicht berücksichtigt worden zu sein. Dies gilt auch für den nachstehenden Band. 

Am Münchner Lehrstuhl von Burcu Dogramaci ist die ebenfalls gut bebilderte Dissertation von Helene Roth entstanden, die New York behandelt, dem wohl wichtigsten Emigrationsort deutschsprachiger Fotografen und Fotografinnen. Ihr Charakter als akademische Qualifikationsarbeit verlangt Nachsicht gegenüber der solchen Arbeiten naturgemäß innewohnenden Tendenz, nahezu alle Aussagen umfassend abzusichern und bibliografisch zu beeindrucken. Bei Roth kommen mit vielfältigen Archivbesuchen, Interviews und lokalen Studien in New York verbundene, aufwendige Recherchen hinzu, deren Ausmaß Respekt abnötigt, leider mit der Folge, dass sich die in den ersten Kapiteln vorgelegte Dokumentation ihrer entsprechenden Aktivitäten wie ein Rechenschaftsbericht für eine fördernde Institution liest. Einzelne Sätze, nur wenige Seiten voneinander entfernt, werden zum Teil fast wortgleich wiederholt. Überflüssige Informationen, methodische Vorsätze, Fragen, Thesen, Ankündigungen, Referenzen und Kritiken bisheriger Forschungspositionen fügen sich im einleitenden Teil der Arbeit zu einer Art bunter Reihe zusammen, in der dann auch die vier „Hauptaspekte“ der Arbeit zu finden sind: „Kreativität-Kontaktzonen-Netzwerke-Fotograf*innen als Akteur*innen“. Zu diesen gehören Andreas Feininger, Fritz Henle, Hermann Landshoff, Lotte Jacobi, Ilse Bing und andere namhafte Fotokünstler, deren Werk zwar gut erforscht ist, aber wie Roths Arbeit zeigt, ermöglicht die intensive Beschäftigung mit dem Kontext ihres Exils viele neue Erkenntnisse. Das Werk der Tierfotografin Ylla muss in diesem Zusammenhang als Entdeckung hervorgehoben werden, aber was ist eigentlich mit Suse Byk?

Roths weitere Vorgehensweise ist schlüssig, indem sie ausgehend vom Abschied in Deutschland die Passagen der Überfahrt rekonstruiert und schließlich die Ankunft in New York beschreibt und dabei stets der Frage nachgeht, wie die Emigranten ihre jeweiligen Erfahrungen mit der Kamera reflektiert haben. In einem zweiten Schritt werden die Versuche der Neuankömmlinge beschrieben, sich urbane Praktiken wie Flanieren oder Fahren mit der Hochbahn anzueignen, um sich ein Bild der für die meisten weitgehend unbekannten Metropole zu machen. Die Autorin zeigt an mehreren Beispielen, dass dieses Bild sehr unterschiedlich ausfiel. So durchstreifte Andreas Feininger die Stadt als fotografierender Kartograf, während Ernst Nash sein archäologisches Wissen nutzte, um in einer topografisch angelegten Serie neoklassizistische Bauwerke zu erfassen. Im zweiten Teil ihrer Untersuchung widmet sich Roth ökonomischen Aspekten und behandelt Institutionen wie Bildagenturen, Museen, Galerien, Verlagen und Zeitschriftenredaktionen, die für die emigrierten Fotografen und Fotografinnen Arbeitsmöglichkeiten und lebenssichernde Einkünfte boten. Genauer dargestellt wird die führende Agentur „Black Star“, bei den Verlagen ist J. J. Augustin von besonderem Interesse, da hier mehrere Fotobücher deutscher Emigranten publiziert wurden. Für die Präsentation ihrer aktuellen Arbeiten bot die „Norlyst Gallery“ ein wichtiges Forum, da dort in der zwischen 1943 und 1945 kuratierten Ausstellungsserie-Serie Captured Light vor allem experimentelle Arbeiten zu sehen waren. Überzeugend fallen auch die Ausführungen zu Lehrtätigkeiten von Fotografen wie Hermann Landshoff oder Josef Breitenbach aus, die an der „New School for Social Research“ Kurse zur Fotografie und zum „Pictorial Journalism“ anboten und auf diese Weise amerikanische Studenten mit dem europäische Foto-Denken der 1920er Jahre vertraut machten. Schließlich werden dem von George Chauncey geprägten Begriff der „sexuellen Topografien“ folgend „intermediale und transkulturelle Kontaktzonen“ ausführlich dargestellt, private Räume und Ateliers, in denen geradezu ein „Netzwerk hetero- und homosexueller Verbindungen“ entstehen konnten, genauer gesagt: „Im Kontext des New Yorker Exils bedeutet Queering folglich das Hervorheben von queeren fotografischen Praktiken und Hinterfragen binärer Rollenbilder.“ Man erfährt in diesem Zusammenhang, dass Rudy Burckhardt, obwohl zeitweise mit dem Maler Denby liiert, „bereits vor seiner ersten Heirat“ Affären mit Frauen hatte, „die teilweise zuvor mit Willem de Kooning liiert gewesen waren“. Ob der Schweizer Fotograf es für passend erachtet hätte, Informationen über sein Privatleben derart ausgebreitet zu sehen, sei dahingestellt.

In diesem wie in anderen Kapiteln wirkt es oft etwas bemüht und schematisch, einleitend immer wieder Begriffsbildungen vorzustellen, die verdeutlichen sollen, dass die Argumentation auf der Höhe zeitgenössischer Theorieentwürfe angesiedelt ist, wobei deren aufgedonnerte Terminologien nur allzu oft über mangelnde deskriptive Schärfe hinwegtäuschen. Erheblich schlichter fallen dann auch oft die Zusammenfassungen der entsprechenden Ergebnisse aus. Mehrere Aussagen lassen zudem auf zum Teil nur sehr oberflächliche Hintergrundrecherchen schließen. Der Name des Hamburger Malers Eduard Bargheer wird meistens falsch geschrieben. Hermann Kestens Buch Dichter im Café ist natürlich kein Roman und Auguste Comte schon gar nicht in erster Linie Mathematiker. Da der Begründer des Positivismus 1857 verstorben ist, kann er sich nicht „bereits Anfang des 20. Jahrhunderts“ für das Experiment als Forschungsmethode ausgesprochen haben. Mario von Bucovich gehört definitiv nicht zur Gruppe der emigrierten Fotografen, da er Deutschland 1930 aus freien Stücken verlassen hat und 1937 von London aus in die USA übergesiedelt ist. Das Buch von Horacio Fernández New York in Photobooks (2016) hätte eine Erwähnung verdient, zumal die Bibliografie nicht weniger als 65 Seiten (!) umfasst.

Aufs Ganze gesehen, lässt sich jedoch sagen, dass beide Autorinnen mit ihren Studien das Wissen um zwei wichtige Metropolen des Exils unter fotohistorischen Aspekten erheblich erweitert haben. Zudem sind beide Publikationen eingebunden in das dem internationalen Künstlerexil gewidmeten Forschungsprojekt METROMOD (https://metromod.net), das online ergänzende Lektüren bietet.

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