Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Matthias Christen

Das fotografierte Gesicht

Max Kozloff: The Theatre of the Face: A History of Modern Portrait Photography, London/New York: Phaidon Press, 2007 – 27 x 20,5 cm, 336 S., 280 Abb. in S/W, 70 Abb. in Farbe, gebunden mit Schutzumschlag – 69,95 Euro

Erschienen in: Fotogeschichte 110, 2008

Das Porträt ist eines der ältesten und bis heute produktivsten fotografischen Genres. Die Betreiber der Porträtstudios, die im vorvergangenen Jahrhundert schon kurz nach der Erfindung des Mediums in großer Zahl aufkamen, trugen maßgeblich dazu bei, dass die Fotografie sich als "industriöse Kunst" (Otto Buehler) auf breiter Front etablierte und im Alltag zunächst der gehobenen und langfristig praktisch aller sozialen Schichten festsetzte. Angesichts der enormen (medien-)historischen Bedeutung des Genres und der überwältigenden Fülle des Materials ist die einschlägige Literatur erstaunlich schmal.

Max Kozloff, einer der führenden amerikanischen Fotohistoriker und -kritiker, der im deutschsprachigen Raum noch immer wenig bekannt, weil kaum übersetzt ist, hat sich vorgenommen, einige Lücken mit einem breit angelegten Überblick über die Genregeschichte zu schließen. Ein wichtiger Teil derselben bleibt dabei allerdings von Anfang an außen vor. Kozloff blendet nämlich die Fotografie des 19. Jahrhunderts komplett aus und liefert für diesen drastischen Schnitt vorab eine ebenso eingängige wie gewagte Begründung: Die Porträtfotografie vor 1900 bleibe, so Kozloff, weitestgehend den Ritualen bürgerlicher Selbstdarstellung und damit dem Repräsentationsbedürfnis jener wirtschaftlich aufstrebenden Klasse verhaftet, deren Angehörige sich einen Atelierbesuch leisten konnten. In ihrer Verfertigung auf "protocols of mutual consent" zwischen Kundschaft und Fotograf geregelt, reproduzierten die Bilder über ein festes Set von Posen, Requisiten und Hintergründen im wesentlichen den sozialen Status des Modelle und sähen einander daher auffallend ähnlich.

Erst an der Wende zum 20. Jahrhundert sieht Kozloff Anzeichen für einen ästhetischen Paradigmenwechsel, zu dem eine Vielzahl von Faktoren beitragen: das Aufkommen des Fotojournalismus, neue, mobilere Kameras, der Film als moderne Form der Bilderzählung, das Aufbrechen fest gefügter Sozialstrukturen und die Erschließung neuer fotografischer Berufsfelder. Nicht länger einseitig von einer bürgerlichen Kundschaft abhängig, entwickeln die Fotografen des 20. Jahrhunderts Kozloff zufolge eigene Agenden und entdecken im Porträt ein Mittel der "social and personal disclosure" (9). Der Fokus verschiebe sich "on the immediate, unique conduct of subjects who experience an unspecified pressure" (9). Kozloff bringt den von ihm betrachteten genregeschichtlichen Umbruch auf eine einfache, leicht fassbare Formel: Orientierte sich die Porträtfotografie des 19. Jahrhunderts mit ihren starren Rollenmustern und Posen an der Bildhauerei, entwickelt sich im 20. das Theater mit seinen dramatischen Szenerien zur ästhetischen Leitmetapher – daher der Titel The Theatre of the Face.

Die große Stärke dieses Ansatzes liegt darin, dass er den Begriff des Porträts um ein – in seiner Erstreckung dehnbares – Moment des Situativen erweitert. Neben allseits bekannten Vertretern der Porträtfotografie wie August Sander, dessen Nachwirken Kozloff unter dem Titel "The Sander Effect. Portrait and the Exposure of the Masquerade" ein eigenes Kapitel widmet, kommen daher auch solche Fotografinnen und Fotografen zur Sprache, deren Arbeiten mit gleichen Recht in einer Geschichte der Sozialreportage oder der dokumentarischen Fotografie stehen könnten. Dabei gelingen Kozloff überraschende Entdeckungen wie Shelby Lee Adams Apalachian Portraits oder Chris Verenes Zyklus zu seiner Heimatstadt Galesburg. Sie machen den Ausfall kanonischer Bilder der Genregeschichte, für die die Erben von Irving Penn, Richard Avedon und Diane Arbus aus unerfindlichen Gründen eine Abdruckgenehmigung verweigert haben, zu einem guten Teil wett.

Dass bei einem derart breit angelegten Unternehmen einiges zur kurz kommt und anderes komplett fehlt, versteht sich von selbst und räumt Kozloff vorab selbst ein; so gilt die Präferenz unverkennbar der amerikanischen Fotografie. Problematischer als das Fehlen einzelner Fotografen und Weltgegenden ist jedoch die übergreifende Periodisierung der Genregeschichte und was sich daraus für die Auswahl und den Umgang mit dem Material ergibt. Schon im 19. Jahrhundert entwickeln sich nämlich an den Rändern der bürgerlichen Gesellschaft Bildpraktiken, die nicht den Ritualen einer zeremoniösen Selbstbespiegelung entsprechen, die Kozloff für die betreffende Zeit als genregeschichtlichen Normalfall unterstellt. Post-mortem-Aufnahmen, die fotografische Erfassung von Heimatlosen und Verbrechern, die Dokumentation medizinischer Experimente oder die Abbildung von Fremden, seien es Vertreter exotischer Ethnien oder marginalisierter Existenzen innerhalb der eigenen, bürgerlich dominierten Sozialordnung – sie alle halten sich nicht an ein "protocol of mutual consent" zwischen Kunde und fotografischem Dienstleister und fallen trotzdem unzweifelhaft in den Bereich des Porträts.

Auch im 19. Jahrhundert erfüllt die Porträtfotografie also eine Vielfalt von Aufgaben; über das gesellschaftliche Repräsentationsbedürfnis einer einzelnen Klasse hinaus dient sie der Ausübung staatlicher Kontrolle, der wissenschaftlichen Typologisierung oder familiären Erinnerungs- und Trauerritualen. Umgekehrt bestehen nach dem von Kozloff beobachteten Aufkommen eines neuen Typs szenischer Porträts, die das Ergebnis einer kaum geregelten, weitgehend frei verhandelbaren Interaktion von Modell und Fotograf sind, auch im 20. Jahrhundert Bildpraktiken weiter, die strengen Protokollen unterliegen. Das wird unweigerlich zu spüren bekommen, wer von sich selbst ein dokumententaugliches Abbild braucht. Die Normierung von Passbildern berührt ebenso wie die Verwendung von Porträts im Rahmen von Trauerritualen oder polizeilichen Fahndungsmaßnahmen weniger die Ästhetik des Genres als dessen Gebrauch. In diesem Punkt stößt Kozloffs Buch an seine Grenzen; denn so weit es sich primär mit einzelnen Porträts als ästhetischen Artefakten und namhaften, meist kunsthistorisch kanonisierten Bildproduzenten beschäftigt, bleibt es einem emphatischen Begriff von Autorschaft verpflichtet, der, wie sich in der jüngeren Forschung gezeigt hat, nicht für alle Bereiche der Fotografie taugt. Kozloff greift zwar gelegentlich vernakuläre Porträttraditionen auf, jedoch nur da, wo sie Gegenstand einer künstlerischen Verarbeitung werden wie in Christian Boltanskis Installationen oder den von Fahndungsfotos inspirierten digitalen Hybridbildungen Nancy Bursons.

Aufs Ganze gesehen, wird sich Kozloffs Periodisierung der Porträtgeschichte kaum halten lassen. Als Arbeitshypothese erlaubt sie ihm jedoch eine Fülle brillanter Bildanalysen. "Insiders and their Cultures. Portraits of Difference 1970–2000" fungiert in diesem Zusammenhang als eine Art Schlüsselkapitel. Am Beispiel sozial randständiger Gemeinschaften untersucht Kozloff hier, wie Fotografinnen und Fotografen sich im Spannungsverhältnis von Distanz und (selbst gewählter) Zugehörigkeit mit ihren Bildern verorten, welche Umgangsformen sie ausbilden, wo keine festen Etiketten bestehen, und welchen moralischen Problemen sie als außenstehende Betrachter begegnen.

Zusammengenommen ergeben die einzelnen Kapitel keine erschöpfende, nach allen Seiten hin ausgewogene Geschichte des fotografischen Porträts. Eher ist The Theatre of the Face ein groß angelegter Essay. Zu den literarischen Eigenheiten dieser Gattung gehört traditionell ein entschieden persönlicher Standpunkt, der sich in der Auswahl der Gegenstände genauso wie im prononcierten Urteil über sie niederschlägt. So macht Kozloff keinen Hehl daraus, dass ihm die großformatigen Porträts des deutschen Fotografen Thomas Ruff nicht zusagen, weil sie ihm in ihrer "psychological anaemia" jegliches theatrale, szenische Moment vermissen lassen. Analyse und Kritik bringt Kozloff mit einer stilistischen Meisterschaft vor, die die Lektüre des Buches auch da zu einem intellektuellen Vergnügen macht, wo für eine überraschende These die fällige Begründung ausbleibt oder man einem Urteil nicht folgen mag. Hinzu kommt, dass der Band, was Ausstattung und Layout anbelangt, Maßstäbe setzt; selten wurden für eine derartige Fülle von – hervorragend reproduzierten – Bildern im Zusammenspiel mit dem Text graphisch so elegante Lösungen gefunden. Beides, die ästhetischen und intellektuellen Qualitäten, werden das Buch zu einem Referenztitel der Fotogeschichte machen.

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