Mandy Gnägi
Der Maler als Fotograf
Ernst Ludwig Kirchners Porträtfotografien
Dissertation am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich – Referenten: Prof. Dr. Wolfgang F. Kersten (Universität Zürich), Prof. Dr. Bettina Gockel (Universität Zürich) – Abschluss: August 2008 – Veröffentlichung: 2011, Michael Imhof Verlag, Petersberg – Kontaktadresse: mandy@gnaegi.ch
Erschienen in: Fotogeschichte 122, 2011
Während über Ernst Ludwig Kirchners Gemälde, seine Grafiken, Skulpturen und Zeichnungen zahlreiche Studien vorliegen, ist bis heute eine umfassende Untersuchung zu seinem fotografischen Œuvre ausgeblieben. Dabei hat er über einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren mit insgesamt vier verschiedenen Kameras ein umfassendes Konvolut an Fotografien geschaffen und fotografierte dabei insbesondere das Konterfei seiner Gäste. Diese werden nun in der vorliegenden Arbeit ausführlich analysiert und schließen die bisherige Forschungslücke. Aufschlussreich werden darin die Ergebnisse einer dezidierten Bildanalyse und Kirchners eingesetzter Foto- und Kameratechnik mit Schriftquellen sowie Gemälden und Grafiken aus seiner Hand in Beziehung gesetzt und ausgelotet. Die Verfasserin legt dar, dass Kirchner die Fotografie nicht nur als Hilfsmittel zur Bildfindung für andere künstlerische Ausdrucksmittel wählte. Vielmehr sind sie eigenständige Kunstwerke, mit denen er auf mannigfaltige Weise seine künstlerischen Visionen auszudrücken verstand.
Denn noch während Kirchner in seiner Militärzeit als Auftragsfotograf tätig war, realisierte er fotografische Porträts von ausgewogenen Tonwerten, harmonischer Beleuchtung und ausgewiesener Bildschärfe. Dies gilt keineswegs mehr für die Aufnahmen seiner Gäste in seinen Ateliers in Dresden und Berlin und vor allem nicht für jene, die in seiner Wahlheimat Davos entstanden. Die hier wie dort eigens angereiste Prominenz wie beispielsweise Alfred Döblin, Henry van de Velde, Oskar Schlemmer oder auch Carl Hagemann wurde grundsätzlich gleich wie unbekannte Modelle, Tänzerinnen, Bauern oder Postboten vor und für die Kamera in Pose gebracht und fotografiert. Allerdings ging Kirchner dazu über, mit fototechnischen Mitteln sowie einer ausgeklügelten Inszenierung die Bildwirkung zu verändern. Auf diese Weise generierte er neue Inhalte. So beschäftigte er sich über das fotografische Porträt mit seiner selbst gewählten, arkadiengleichen Künstlerwelt und schuf ganz eigene Lichtbilder, die sich unter den Begriffen Ideallandschaften, Schönheit, Verführung und schließlich dem Lebenskreis summieren lassen. Zudem hat Kirchner bestimmte Themen mit dem fotografischen Bild über Jahre hinweg verfolgt und Ergebnisse von einer jeweils anders gelagerten Aussage geschaffen. Kunsthistorische Topoi scheinen auf, die zeigen, dass sich Kirchners betonte Auseinandersetzung mit den alten Meistern ganz konkret in seinem Werk niedergeschlagen hat. Nicht im Sinne einer Kopie – was er in seinen Studienjahren durchaus kennen gelernt und danach abgelehnt hat – sondern im Sinn einer Transformation des Topos in seine Gegenwart mit der Formulierung einer dezidiert eigenen, ganz persönlichen und dann wiederum allgemein verständlichen Ikonografie.
Nicht zuletzt war der Ort der Aufnahme für Kirchner von besonderer Bedeutung. In seiner Wahlheimat Davos fanden sich die Porträtierten dazu auf der Veranda seines Hauses auf dem Wildboden ein: Geschützt durch ein Vordach und doch unmittelbar von der Schönheit der alpinen Landschaft umgeben, zeigen die dort realisierten Aufnahmen durchweg einen als kontemplativ zu bezeichnenden Gesichtsausdruck der Porträtierten. Gezielt eingesetzte Schärfe und Unschärfe sowie Überstrahlung, Unterbelichtung und sogar Doppelbelichtungen sind es, mit denen Kirchner die innere Befindlichkeit der Personen auf der Lichtplatte bannte. Wenn er von sich selbst zeitlebens das Bild eines rastlosen und spontan agierenden Künstlers kolportierte, so sprechen seine Fotografien und ebenso seine danach gearbeiteten Gemälde und Grafiken die Sprache einer durchdachten, einfühlsamen und bisweilen langsam-sukzessiven Arbeitsweise, da er an einer mimetischen Widergabe der Porträtierten nicht primär interessiert war. Letztlich zeigt sich in der Verknüpfung von Bildstrategien, die Kirchner als Maler und Grafiker für sich entwickelt hatte, mit den Ausdrucksmöglichen, die das fotografische Verfahren bot, das besondere Phänomen seiner Porträtfotografien, denn sie führen auf vielschichtige Weise vor Augen, dass der Maler Kirchner als Fotograf den entscheidenden Moment für die Aufnahme wählte.
Literatur: Mandy Gnägi: Der Maler als Fotograf: Ernst Ludwig Kirchners Porträtfotografien, Petersberg, Michael Imhof Verlag, 2011.
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