Anton Holzer
Editorial, Heft 87, 2003: Die Rückseite der Fotografie
Erschienen in Fotogeschichte Heft 87, 2003
Dass die Fotografie zwei Seiten hat, eine Vorder- und eine Rückseite, diese einfache Tatsache wird oft gerne vergessen. Allzu schnell wird das Foto auf die Bildseite reduziert. Sie ist es, die Bedeutung verspricht, die der Betrachtung wert ist, die abgebildet wird. Die Rückseite der Fotografie hingegen wird bestenfalls als Dienerin der Vorderseite gesehen. Hier werden Informationen gesucht, die versprechen, die Vorderseite zu erhellen. Bildbeschriftungen, Stempel, Signaturen. Zeichen, die in Publikationen, wenn überhaupt, gerne in die Bildtexte verbannt werden, weil sie, so heißt es, nur mittelbar mit der Fotografie, der Vorderseite, verbunden sind. Abbildungswürdig sind die Rückseiten selten, gelegentlich werden sie transkribiert, die wichtigen Botschaften, Daten, Namen, Orte werden herausgefiltert und ein für allemal der Welt der Schrift zugeschlagen.
Die Rückseite der Fotografie gilt oft als lästiges Anhängsel, insbesondere dann, wenn sie Missverständnisse erzeugt, Unklarheiten hervorruft, wenn die Angaben der Rückseite verwirrend sind oder ungenau oder widersprüchlich. Für Historiker könnte das ein Fall für Quellenkritik sein. Es könnte Anlass sein, ins Archiv zurückzukehren, neue Dokumente zu sichten und Kontexte zu recherchieren. In den letzten Jahren wurden Anstrengungen in diese Richtung unternommen. Die illustrative Verwendung der Fotografie wurde in den historischen Wissenschaften zunehmend hinterfragt, die Rückseite der Fotografie wurde im Zuge dieser Bemühungen als Quelle rehabilitiert.
Und dennoch: Die Rolle der Fotorückseite ist mit dem Hinweis auf ihren Quellencharakter noch nicht hinreichend charakterisiert. In diesem Heft soll es daher nicht so sehr um historische Fotoquellenkritik im engeren Sinne gehen – wiewohl auch hier noch einiges zu leisten wäre ", sondern um das schillernde Verhältnis zwischen der einen und der anderen Seite der Fotografie gehen. Dieses Verhältnis ist im einfachen Gegensatz zwischen Bild und Text nicht unterzubringen, es ist ein gesellschaftliches, aber auch ein ästhetisches Verhältnis.
Im 19. Jahrhundert etablierte sich in der Atelierfotografie ein kunstvolles Programm der Illustration von Fotorückseiten. Die "andere Seite der Fotografie" wurde zur Werbebühne ausgebaut mit Angaben zum Fotografen und seinem Atelier, mit Stempeln, Vignetten, Zeichnungen und gelegentlich sogar mit fotografischen Porträts der Fotografen (Abb. 1 und 2). Aber auch in der privaten und besonders in der Knipserfotografie beginnt die Fotorückseite eine wichtige Rolle zu spielen. Mit dem Aufkommen der Ansichtskarte etabliert sich eine Bildgattung, die das Vexierspiel zwischen beiden Seiten der Fotografie zum Programm erhebt. Mit der Aufteilung der Karte in eine Bild- und eine Textseite – das Adressfeld eingeschlossen – wurde im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts versucht, die Flut der Grußbotschaften in geordnete Bahnen zu lenken. Hie und da aber setzen sich die rhetorischen Eingriffe auch noch auf der Bildseite fort (Abb. 3 und 4). Ebenso wie in der privaten und in der Knipserfotografie werden auf den Rückseiten der Bilder Zeichen gesetzt, die die Bildseite erklären, hier wird kommentiert, eingeordnet, aber auch korrigiert und umgedeutet. Auch das Archiv und das Museum haben schon sehr früh die Rückseite der Fotografie nicht nur als Informationsflächen (Bildbeschriftungen), sondern auch als ästhetische Flächen genutzt. Stempel und Signaturen ziehen Netze der Gemeinsamkeiten und der Unterscheidungen um Bestände, sie gliedern ein (oder aus) und markieren Besitztümer. Nicht selten erweist sich die Fotorückseite als Palimpsest solcher Besitznahmen, dann etwa, wenn neue Stempel alte ersetzen, wenn umsigniert wird oder wenn alte Bildbeschriftungen durch neue ersetzt oder überschrieben werden.
Die Fotorückseite ist, und diesem Gedanken wäre noch weiter nachzugehen, materieller und symbolischer Schnittpunkt in der Politik der Eigentümer. Die Besitzer von Fotografien markieren ihren Besitz gerne auf den Rückseiten, öfters löschen sie damit auch die Zeichen früherer Besitzer aus oder überschreiben diese. Tatsächlich geht die Markierung des Besitzstandes im Rücken der Bilder auf eine lange Tradition zurück. Immer wieder ist darauf verwiesen worden, dass die Entwicklung der Fotografie " zumindest im 19. Jahrhundert – eng mit der Herausbildung eines bürgerlichen Selbstbewusstseins verbunden war. Zu diesem Selbstverständnis gehört auch die Sicherung und Bezeichnung des visuellen Eigentums. Der Gedanke liegt nicht weit: Die Fotorückseite ist – zusammen mit der Bildseite ", bei aller praktischen Bedeutung für den Fotografen selbst, auch ein symbolisches Zertifikat der bürgerlichen Identität. "Die Platte bleibt für Nachbestellungen aufbewahrt", heißt es oft auf den Rückseiten der Atelierfotografien, und gelegentlich ist noch eine Zeile für die Plattennummer freigehalten. Diese Signatur verdichtet das Porträt in einer Zahlenkombination. Über die Fotografie und deren eindeutige Zuordnung lässt sich die visuelle Kontinuität des Porträtierten herstellen. Die Fotorückseite verankert das Bild eindeutig im Archiv des Fotografen. Die Platte gehört dem Fotografen, das Bild des Porträtierten liegt für ihn auch künftig bereit. Er kann es jederzeit abrufen.
Wenn auch Versuche zu beobachten sind, die Rückseite der Fotografie mit der Vorderseite in einen identifizierenden Zusammenhang zu bringen, so ging diese Strategie beileibe nicht immer auf. Das Wechselspiel zwischen Bildseite der Fotografie und ihrer Rückseite bleibt spannungsreich. Wenn man die Fotografie von ihrer publizierten Form im Kunstbildband löst, der sie mit aller Kraft in die Flächigkeit zwingt und die Rückseite in der Regel ganz verbannt, dann rückt auch die Materialität der Fotografie wieder in den Vordergrund. Fotografien, darauf haben Künstlerinnen und Künstler immer wieder mit ihren Arbeiten aufmerksam gemacht, sind nicht nur Flächen ohne Tiefe. Wenn etwa die Fotografin Sissi Farassat ihre Bilder mit Fäden durchzieht, die auf der Bildseite fotografische Formen hervorheben und sich auf der Rückseite zu seltsamen Mustern verdichten, so kommt die Kehrseite der Fotografie ins Spiel. Der Abzug wird durchbohrt, seine Dichte lässt sich erahnen, die Fäden schließen sich vor und hinter dem Bild, umfangen es.
Dass Fotografien nicht nur Flächen sondern auch eine Tiefe haben, wird dann kenntlich, wenn wir private Fotografien vor uns haben, die mit einem Reißnagel durchbohrt wurden, um das Bild etwa an der Küchenkredenz zu verankern. Diese Einstichlöcher heben das Foto heraus als bedeutungsvolles Bild. Das Loch verweist wie die Spuren seiner Handhabung auf ein Abbild, das mehr ist als Repräsentation. Es liegt in der Hand wie ein Fetisch, es wurde fixiert, weil es Leben aufbewahrt, weil es womöglich Leidenschaft und Zuneigung festhält. Die Fotografie als Objekt, als ein Bild mit Ausdehnung, hat mehr als nur eine Seite. Das Papier, der Karton, auf dem es aufgetragen ist, macht das Bild haltbar, handhabbar. Ob es in der Brieftasche versenkt oder in einen Rahmen eingelassen wird, immer ist es mehr Gegenstand als Fläche.
Die Familiengeschichte, die oft mindestens ebenso sehr entlang der Fotorückseiten entsteht als entlang der Bildseiten, verzweigt sich in den Bildbeschriftungen und in der Ordnung der Alben. Oft beginnt geradezu aus dem Nichts eine neue Geschichte, andere Geschichten enden oft von einem Tag auf den anderen. Dann, wenn die Fotos kommentarlos in die Hände der Nachgeborenen kommen oder am Flohmarkt entsorgt werden, zerfällt dieses imaginäre Archiv, es löst sich auf. Wenn die Erinnerung schwindet, blasst nicht nur die Bedeutung der Bildseite aus, auch die Zeichen auf der Rückseite lösen sich aus ihren eindeutigen Zuordnungen. Thomas Kutschker lässt in seinem Archiv der Fotorückseiten die Kehrseiten entsorgter Bilder erzählen. In seiner Neuanordnung entstehen freilich keine alten Familiengeschichten mehr, sondern neue, andere Geschichten.
Wenn man ein Bild umdreht, kommt, materiell gesehen, ihre Rückseite zum Vorschein. Was passiert aber, wenn etablierte Bilder der Fotografiegeschichte gewendet werden" Dann kommen gelegentlich Seiten zum Vorschein, die, aus unterschiedlichen Gründen, unter den Teppich gekehrt wurden. Karl Pawek, ein Säulenheiliger der österreichischen und deutschen Fotografie, ist so ein doppelgesichtiger Fall. Dass er eine lange, steile Karriere hinter sich hat, wissen alle. Dass er Wendehals und Kriegsverbrecher war, wollte bis heute niemand wissen. Timm Starl macht sich in seinem Beitrag zu Karl Pawek auf die Suche nach der Kehrseite dieser Geschichte.
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