
Harriet Scharnberg
Zwangsfotos zur Erinnerung
Margit Berner: Letzte Bilder. Die „rassenkundliche“ Untersuchung jüdischer Familien im Ghetto Tarnów 1942 – Final Pictures. The 1942 “Race Study” of Jewish Families in the Tarnów Ghetto, Berlin: Hentrich & Hentrich (Notizen visuell 3), dt./engl., 2020, 292 S., 26 x 22 cm, 737 Abb. In S/W und Farbe, gebunden (erscheint auch broschiert), 39 Euro.
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 160, 2021
Im Frühjahr 1942 fahren zwei Wiener Anthropologinnen, Dr. Dora Maria Kahlich und Dr. Elfriede Fliethmann, in das galizische Tarnów bei Krakau, um ansässige jüdische Familien für eine „rassenkundliche“ Studie zu vermessen. Sie nehmen Fotos, Maße und Daten von über 100 Ehepaaren mit je mindestens zwei Kindern, die ihnen vom Judenrat benannt und vom Sicherheitsdienst der SS zugeführt werden. Während Fliethmann noch im gleichen Jahr ihre Forschungsergebnisse in der Zeitschrift Deutsche Forschungen im Osten veröffentlicht, beginnen die Deutschen mit der systematischen Ermordung der europäischen Juden; auch die meisten Vermessenen sind schon kurze Zeit später tot.
Rund 50 Jahre später: Margit Berner, selber eine Wiener Anthropologin, ausgebildet am selben Institut wie Kahlich und Fliethmann, findet im Magazin des Naturhistorischen Museums eine Pappschachtel mit der Aufschrift „Tarnow Bilder – nicht öffnen“. Als Berner die Schachtel öffnet, sieht sie sich den überlieferten anthropometrischen Porträts der ermordeten Tarnower Juden gegenüber. Jahrelang konsultiert sie Kollegen, Archive und Überlebende und trägt zahlreiche Quellen zu den Tarnower Juden und den vermessenen Familien zusammen. Aus den 1942 erhobenen Daten und Bildern generiert sie Familienbiografien, „um die Ermordeten als Personen und mit ihren Namen wieder sichtbar werden zu lassen“ (S. 15f.). Denn zynischerweise handelt es sich bei den rassistischen Forschungsdaten und -dokumenten um die einzigen erhaltenen Lebenszeugnisse der allermeisten Untersuchten. In ihrem anlässlich einer Ausstellung in der Berliner Topographie des Terrors erschienenen Bildband Letzte Bilder stellt sie ihren Fund vor.
Berner präsentiert die Vermessenen familienweise. Sie zeigt von jedem Familienmitglied ein anthropometrisches (meist das frontale) Foto, das nach Vorbild der erkennungsdienstlichen Fotografie gefertigt und im Band etwa in Passbildgröße gedruckt ist. Dazu gibt sie diejenigen familienbiografischen Daten aus der rassenkundlichen Erhebung, die für ihre Zwecke opportun sind: Namen und Lebensdaten der Großeltern, sämtliche Berufe, Geburts- und Wohndaten der Familie. In den meisten Fällen beendet der lapidare Satz „Über die Todesumstände der Familie ist nichts bekannt“ den Eintrag. In einigen Fällen konnte Berner andere, „freiwillig aufgenommene Fotos“ oder Dokumente der Vermessenen finden und den Zwangsbildern gegenüberstellen, „um die prinzipielle Differenz in Erinnerung zu rufen“ (S. 16). In wenigen Fällen konnte sie so viele Informationen ermitteln, dass die Familienbiografie zu einer beeindruckend anschaulichen Erzählung wird. Dann gelingt es, den seriellen Charakter der Bilder, ihrer Gestaltung und Präsentation und auch den seriellen Charakter der Daten durch individuelle Bilder und Geschichten zu brechen. Die 106 Familienbiografien sind im Band in sechs Abschnitte gruppiert. Dazwischen findet der Leser instruktive, illustrierte Sachtexte zum jüdischen Leben im Tarnów vor und unter der deutschen Besatzung, zum Holocaust in Tarnów sowie zu der rassenkundlichen Untersuchung und deren wissenschaftlichen Protagonistinnen.
Einen entsprechend instruktiven Text über die quellenkritische Einordnung der abgebildeten Fotografien sowie eine Reflexion unseres heutigen Umgangs mit solchen Bildern liefert Berner leider nicht. Dabei drängen sich ethische Fragen in Anbetracht der erzwungenen rassenkundlich-ideologischen Ausbeutung der Abgebildeten direkt vor ihrer Ermordung geradezu auf. Solche Fragen werden in letzter Zeit viel diskutiert, denn sie erwiesen sich in verschiedenen Disziplinen als zunehmend dringlich – neben der NS-Fotoforschung auch generell im Umgang mit sensiblen musealen Objekten oder bei der Präsentation der zahlreichen Bilder des (deutschen) Kolonialismus.[1] Mit den Überlegungen von Cornelia Brink und Susanne Regener liegt einschlägige, aber von Berner nicht herangezogene Literatur bereit, in deren Rahmen das Konvolut hätte betrachtet und diskutiert werden können.[2] Regener und Brink haben für solche Bilder den Gattungsbegriff Fotografie-wider-Willen geprägt, der das Setting des erzwungenen fotografischen Akts in den Vordergrund rückt. Und sie haben darauf verwiesen, dass man gute Gründe haben sollte, wenn man an Stelle der Abgebildeten die Entscheidung trifft, Fotografien einer solchen Zwangspraxis den Blicken der Nachgeborenen auszusetzen. Warum, unter welchen Voraussetzungen und bei welchem Erkenntniswert ist es wichtig oder unerlässlich, diese Zwangsbilder öffentlich zu zeigen und warum sticht das das Recht der abgebildeten Menschen aus, so nicht öffentlich gezeigt zu werden? Für den Leser bleiben Berners Überlegungen zu diesen zentralen Fragen im Dunkeln. Ihre Motivation, „die Ermordeten als Personen und mit ihren Namen wieder sichtbar werden zu lassen“ oder, wie es im Vorwort der Direktorin der Topographie des Terrors heißt, „die Ermordeten wieder sichtbar zu machen und sie dem Vergessen zu entreißen“, kommt zu formelhaft daher und berücksichtigt nicht die Ambivalenz, dass diese Erinnerung mit Bildern und Daten einer Zwangsvermessung geschehen soll, die in ihrer seriellen Normierung darauf ausgerichtet sind, Persönlichkeit zu eliminieren.
Der Titel der Publikation und die Aufnahme des Bandes in die Reihe Notizen visuell unterstützen ebenso wie das Vorwort der Direktorin der Topographie des Terrors den Eindruck, dass die Publikation sich auch an fotogeschichtlich interessierte Leser wendet. Denen werden die zu den Abbildungen notierten Informationen allerdings zu spärlich erscheinen. Material, Originalformat, Urheber, Datierung, Kontextinformationen über die Quelle sind nur manchmal genannt, eine fotogeschichtliche Einordnung und Fragestellung wird nicht entwickelt. Das erscheint besonders bedauerlich im Fall einer zweiten Bildquellenart, die Berner systematisch den Zwangsbildern gegenüberstellt. Dabei verzichtet sie auf jegliche Information und Klassifizierung der Bilder und präsentiert auch keine Erkenntnisse aus der Gegenüberstellung. Es handelt sich um Passfotos aus dem Jahr 1940, die in Krakau aufgenommen wurden. Sie werden für 17 der 106 Familien zusätzlich zu den Vermessungsbildern gezeigt. Diese Familien eint, dass sie vormals in Krakau lebten und im Sommer 1940 der deutschen Aufforderung folgten, die Hauptstadt des Generalgouvernements zu verlassen. Im Zuge dessen wurden offenbar die Passfotos erstellt, die Berner im Jüdischen Historischen Institut fand. Welchem Entstehungskontext sich diese Bilder genau zu verdanken haben, ob der Eindruck teilweise frappierend ähnlicher Bilder trügt und ob es sich auch bei diesen Fotos um Fotografien-wider-Willen handelt – mit diesen Fragen bleibt der Leser allein.
Wo es Berner gelungen ist, Überlebende der vermessenen Tarnower Familien auszumachen, sind ihr beeindruckende Familienpanoramen und tragische Geschichten vom Überleben unter unwahrscheinlichsten Bedingungen gelungen. Privataufnahmen brechen dann das serielle, typologisierende Erscheinungsbild der rassenkundlichen Fotografien. Dass das nur in wenigen Fällen möglich war, ist natürlich nicht der Autorin anzulasten. Etwa 80 Prozent der Familienbiografien geben im Grunde lediglich die zwangsweise erhobenen Daten wieder. Gerade deshalb wäre eine explizitere Reflexion des eigenen Umgangs mit den Bildern und der Absicht, mit den in einer Ohnmachtssituation erzwungenen Bildern und Daten Erinnerung zu stiften, wichtig gewesen.
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[1] Vgl. z.B.: Themendossier Bildethik. Zum Umgang mit Bildern im Internet, hg. von Christine Bartlitz, Sarah Dellmann und Annette Vowinckel, Onlineportal Visual History 2020, https://visual-history.de/2020/07/20/themendossier-bildethik/ (Zugriff: 30.12.2020).
[2] Susanne Regener: Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen, München 1999; Cornelia Brink: Vor aller Augen: Fotografien-wider-Willen in der Geschichtsschreibung, in: WerkstattGeschichte, Heft 47, 2008, S, 61–74.
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