Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Moritz Lampe

Maschinenbild und Wunderglaube

Fotografische Bildpraktiken und die katholische Moderne in Italien, 18611915

Forschungsprojekt an der Universität Leipzig, gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Projektnummer 439411386, Beginn: Oktober 2020. Kontakt: moritz.lampe(at)uni-leipzig.de

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 167, 2023

 

Mit der Einführung der Fotografie kam es um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem nachhaltigen Wandel der katholischen Frömmigkeitskultur in Italien, als Abbildungen von Heiligen, Kultbildern oder Wallfahrtsorten erstmals als technisch-apparative Bilder verfügbar wurden. Das Forschungsprojekt untersucht, welche Funktionen diese Fotografien für die katholische Identitätskonstruktion besaßen und zielt auf eine differenzierende Darstellung der religiösen, politischen und kulturellen Verhältnisse, die dieser medienhistorischen Sattelzeit eigneten. Im Mittelpunkt stehen dabei drei Untersuchungskomplexe. Zum einen soll untersucht werden, welche Fotoateliers auf diesem Gebiet operierten und welche ökonomischen und ästhetischen Strategien diese bei der Auswahl, Inszenierung und Vermarktung ihrer Fotografien verfolgten. Zum anderen soll dargestellt werden, wie die katholische Bildertheologie dem neuen Medium in der theoretischen Reflexion begegnete und Fotografien für die funktionale Modernisierung der Kirche fruchtbar machte. Darüber hinaus soll anhand mehrerer Fallbeispiele exemplarisch nachgezeichnet werden, auf welche Art religiös konnotierte Fotografien als Gegenstand religiöser, sozialer und ökonomischer Austauschbeziehungen in rituelle Handlungen eingebunden waren. Methodisch wird dabei ein erweiterter Fotografiebegriff angewendet, der fotografische Bilder nicht auf ihre visuellen Eigenschaften reduziert, sondern sie als haptisch und sensorisch erfahrbare Objekte mit einer jeweils individuellen Materialität, Biografie und Agentialität konzeptualisiert. Zeitlich gesehen fokussiert das Forschungsprojekt insbesondere auf die Jahre zwischen der Gründung des modernen italienischen Nationalstaats und dessen Eintritt in den Ersten Weltkrieg (1861–1915).

Vom Index zum Objekt

Trotz ihrer großen Bedeutung für die katholische Frömmigkeitskultur wurde der religiös motivierten Fotografie im Italien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts noch keine umfassende Studie gewidmet. Wichtige Einzelstudien, die das Potenzial einer solchen Untersuchung aufgezeigt und auf Forschungsdesiderate hingewiesen haben, sind erst in den letzten Jahren erschienen.[1] Das Fehlen einer systematischen Darstellung der Wiegenzeit katholischer Fotografiegeschichte lässt sich dadurch erklären, dass die Geisteswissenschaften erst in den letzten Jahrzehnten ein methodisches Instrumentarium entwickelt haben, mit dem sich der Gebrauch dieser Fotografien adäquat analysieren lässt. Wegweisend sind in dieser Hinsicht insbesondere Ergebnisse der material culture studies, die die sozialen Eigenschaften von Fotografien als multiple Originale mit einer individuellen Materialität herausgearbeitet haben: Als haptisch und sensorisch erfahrbare Objekte erschließen sie sich dem menschlichen Wahrnehmungsapparat auf unterschiedlichste Weise, sind in soziale Handlungen eingebunden und können z.B. geküsst, aber auch geweiht, verkauft und gesammelt werden.[2] Zusammen mit Ansätzen aus der modernen Religions- und Emotionswissenschaft, die den Sinngehalt materieller Gegenstände für Glaubensgemeinschaften untersucht,[3] erlaubt dieser methodische Neuzugriff auf ein Medium, das lange Zeit nur als einseitige Flachware etikettiert wurde, den vielseitigen Funktionsweisen von Fotografien als Objekten religiöser Kontingenzerfahrung gerecht zu werden. Auf dieser Grundlage will das Forschungsprojekt das klassische Index-Paradigma, welches Fotografien auf ihre Rolle als visuelles Zeichen eines Referenten reduziert, überwinden und darstellen, wie eine durch Rationalisierungs- und Säkularisierungsprozesse geprägte Gesellschaft neue Formen (der medialen Vermittlung) von Religion und Religiosität ausbildet.

Inszenierung von Sakralität

Wie erste Vorarbeiten zeigen, bildeten Orden und Kongregationen neben den von ökonomischen Interessen geleiteten Fotoateliers einen wichtigen Akteur auf diesem neuen Markt der religiös konnotierten Lichtbilder. Nach der Eroberung des Kirchenstaates und Enteignungen kirchlichen Besitzes zu größerer finanzieller Autonomie angehalten, wurde die gewinn- und aufmerksamkeitssteigernde Vermarktung ordenseigener Kultobjekte zu einer wichtigen monetären Größe. Zwar waren die religiösen Gemeinschaften selten direkt in den Herstellungsprozess solcher Fotografien involviert, aber durch strategische Kooperationen mit ausgewählten Fotoateliers profitierten sie vom Verkauf von Fotografien und der dadurch beschleunigten Generierung neuer inner- und außeritalienischer Pilger- und Touristenströme. Wie mehrere Beispiele aus dem 19. Jahrhundert zeigen, nutzte man Fotografien nicht nur um Kultbilder, Heiligengrablegen und Reliquiare zirkulieren zu lassen, sondern auch, um Ordensmitglieder nach ihrem Ableben als zukünftige Heilige aufzubauen und durch die Divulgation ihrer Porträts sowohl eine offizielle Ikonografie, als auch ein spezifisches Set von moralischen, emotionalen und verhaltensbezogenen Rollenidealen zu vermitteln. Hinzu kamen fotografische Porträts der oberen Kirchenhierarchie, die von spezialisierten Fotoateliers hergestellt wurden und rasch Verbreitung fanden. Charakteristisches Merkmal dieser Fotografien war häufig der Rückgriff auf die Möglichkeit händischer Intervention: Durch Bildmanipulationen wie Negativretusche, Doppelbelichtung oder Kolorierung konnte ein höherer Sakralitätsgrad der abgebildeten Objekte suggeriert und deren Überzeugungskraft gesteigert werden. Zusätzlich wurden dem gläubigen Adressaten dieser Bilder durch kommentierende Textelemente und Gebetsaufforderungen auf dem Abzug oder Trägerkarton rituelle Rezeptionsvorgaben erteilt.

Fotografie und katholische Bildertheologie

Während historische Darstellungen zur katholischen Bildkritik für den Bereich der Frühen Neuzeit in den letzten Jahrzehnten grundlegende Ergebnisse präsentiert haben, bleiben entsprechende Untersuchungen zur Fotografie ein Forschungsdesiderat. Dies überrascht umso mehr, da sich die Wechselbeziehungen zwischen Wissenschaft, Kunst und Kirche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als überaus fruchtbar erwiesen haben. Textzeugnisse aus dem Umfeld der katholischen Publizistik zusammenzutragen, die sowohl das Verhältnis der Kirche zur Fotografie im Allgemeinen als auch in Bezug auf den Gebrauch von Andachtsfotografien im Speziellen beleuchten, ist daher erklärtes Ziel der Studie. Die Berücksichtigung so unterschiedlicher Publikationen wie La Civiltà Cattolica, L’ Eco Cattolico,La Madre Cattolica oder Il Giardinetto di Maria ermöglicht es, ein möglichst differenziertes Bild dieser Diskursivierung der Fotografie zu zeichnen und dabei auch die zunehmende Feminisierung des religiösen Lebens im Ottocento in den Blick zu nehmen. Dabei ist bereits absehbar, dass sich ein durch zahlreiche Widersprüche und Ambivalenzen geprägtes Bild ergeben wird. Zwar wurde die Fotografie als nützliches Hilfsmittel katholischer Bildpolitik und wissenschaftliches Werkzeug, das etwa die neuentdeckten, frühchristlichen Katakombenmalereien bekannt machte, nahezu durchgängig positiv bewertet, gleichzeitig stellte die massenhafte Verbreitung religiös motivierter Fotografie im Zusammenhang mit der zunehmenden pietà populare das von der Kirche beanspruchte Monopol zur Bild- und Heilsvermittlung vor neue Herausforderungen. Wie zu zeigen sein wird, trat die Kirche dieser Entwicklung außerkirchlicher Andachtspraxis seit dem Ersten Vatikanischen Konzil von 1869–1870 vermehrt entgegen, indem sie nicht nur Anpassungen auf dem Gebiet der Liturgie, Heiligenverehrung und Missionsarbeit vornahm, sondern Fotografien von Päpsten, Kardinälen und Bischöfen bewusst zur Stärkung des päpstlichen Primats einsetzte. Mit diesen Maßnahmen reagierte die Kirche auch auf die zunehmende Popularität von Porträtfotografien berühmter Persönlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens wie Tänzerinnen, Operndarsteller und Politiker.

Individuelle Andacht und die Evidenz sakraler Fotografie

Wesentlich für die Aufwertung von Fotografien als Gegenstand religiöser Handlungen war ihre Charakterisierung als Resultat einer sich unvermittelt selbst abbildenden Natur, in der sich die göttliche Schöpfung vermeintlich ohne menschliche Intervention spontan reproduziert. Der höhere Wahrheits- und Wirklichkeitsgehalt dieser acheiropoietischen Fotografie, der sich in einem differenzierendem Detailreichtum manifestierte, wurde durch naturwissenschaftliche Theorien aus dem Bereich der optischen Physik unterstützt, in denen Lichtstrahlen als feine Emanationen aufgefasst wurden, die Lebewesen und Gegenstände aussandten. Parallel dazu entwickelte sich aber auch die Idee, dass der Fotograf seine Bilder beseelen könne. Der Doppelcharakter des fotografischen Bildes als Repräsentation und Präsenz markiert damit in der Nachfolge des artefice cristiano eine neue Form der Identität von Schöpfer und Schöpfung: War es vormals der göttlich inspirierte Künstler, der sich als Garant für den christlichen Geist seiner Produkte verbürgen musste, steht die lichtgeborene Fotografie zunächst für sich selbst. Gleichzeitig lässt sich anhand von Fotografien aus katholischen Bildarchiven aber nachvollziehen, dass den modernen Bilderzeugungsverfahren im Ottocento auch mit technologiekritischem Skeptizismus begegnet wurde. Diesen versuchte man durch den Rekurs auf traditionelle Formen der Bildlegitimierung und eine evidenzerzeugende Kombinatorik zu überwinden: Eine Statusaufwertung der Fotografien durch die Anbringung von Siegelstempeln, Ex-Indumentis-Reliquien oder rituelle Segnungen durch Priester führte zu ihrer Re-Auratisierung und machte aus den massenhaft vervielfältigten Abzügen wieder individuelle Unikate, die das religiöse Verlangen nach Unmittelbarkeit und Authentizität befriedigten und Wunder bewirken konnten. Als hybride Objekte, die ihre Autorität aus der Legierung unterschiedlicher Autoren, Materialien und Abdruckverfahren erzeugten, sind sie Zeugnis für den oszillierenden Bildstatus von Fotografien, die trotz der zeitgenössischen Objektivitätsrhetorik auch misstrauisch beäugt wurden.

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[1]    Siehe unter anderem Peter Geimer: ‘Nicht von Menschenhand’: zur fotografischen Entbergung des Grabtuchs von Turin, in: Gottfried Boehm (Hg.): Homo pictor, München 2001, S. 156–172; Urte Krass: Kontrollierter Gesichtsverlust: Padre Pio und die Fotografie, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, Nr. IV/2, 2010, S. 71–96;  Sandra S. Phillips: The Papal Collection of Photographs in the Vatican Library, Città del Vaticano 2012; Moritz Lampe: Neue Bilder für neue Heilige: eine postmortem Fotografie von Francesco De Federicis als Rechtsobjekt und Märtyrerikone, in: Kritische Berichte: Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften, Bd. 47, Nr. 1, 2019, S. 58–68; Tommaso Caliò (Hg.): Santi in posa: l’influsso della fotografia sull’immaginario religioso, Rom 2019.

[2]    Exemplarisch sei hier nur auf folgende Publikationen verwiesen: Elizabeth Edwards, Janice Hart (Hg.): Photographs, Objects, Histories. On the Materiality of Images, London 2004; Geoffrey Batchen: Forget Me Not. Photography and Remembrance, New York 2004; Margaret Olin, Touching Photographs, Chicago 2012; Julia Bärnighausen, Costanza Caraffa, Stefanie Klamm, Franka Schneider, Petra Wodtke (Hg.): Photo-Objects: On the Materiality of Photographs and Photo Archives in the Humanities and Sciences, Berlin 2019; Tatjana Bartsch, Ralf Bockmann, Paul P. Pasieka, Johannes Röll (Hg.): Faktizität und Gebrauch früher Fotografie – Factuality and Utilization of Early Photography: Internationale Tagung der Fototheken des Deutschen Archäologischen Instituts Rom und der Bibliotheca Hertziana, Wiesbaden 2021.

[3]    Siehe unter anderem Birgit Meyer: Media and the Senses in the Making of Religious Experience: An Introduction, in: Material Religion, Bd. 4, Nr. 2, 2008, S. 124–134, Oliver Krüger: Die mediale Religion. Probleme und Perspektiven der religionswissenschaftlichen und wissenssoziologischen Medienforschung, Bielefeld 2012; Daria Pezzoli-Olgiati (Hg.): Religion in Cultural Imaginary: Explorations in Visual and Material Practices, Zürich 2015; Stephanie Downes, Sally Holloway, Sarah Randles (Hg.): Feeling Things: Objects and Emotions through History, Oxford 2018; David Morgan: The Thing about Religion: An Introduction to the Material Study of Religions, Chapel Hill 2021.

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