Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Anne Vitten

Das fotografische Atelier:

Kunst, Geschäft, Industrie. Editorial

 

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 170, 2023

 

Das fotografische Atelier ist ein Faszinosum, es bietet Raum für Dienstleistungen und ist gleichzeitig Experimentierkammer für den gesellschaftlichen wie individuellen Ausdruck. Es ist ein Ort sozialer Zusammenkünfte, an den sich vielfältige Erwartungen knüpfen. Das Atelier fungiert als Hintergrund für Aufnahmen aller Art und ist ein Lebensraum für das Business mit Bildern. Im fotografischen Atelier kulminiert auf ganz eigene Art und Weise Persönlichkeit und Öffentlichkeit.

Theoretisch bietet das Atelier Raum für alles, was die fotografische Technik möglich macht. Je nach Ausstattung und Nachfrage ist es auf einzelne Bildgenres spezialisiert, sodass uns Porträtstudios, Studios für Produkt- und Sachfotografie oder abstrakte Fotokunst begegnen. In ihrer Summe bilden sie bis heute eine wichtige, strukturelle Einheit für die professionelle Bildherstellung und Ausbildung von Fotograf*innen in den Metropolen und auf dem Land. Die Ausstattung, der Standort und die personelle Zusammensetzung machen jedes Studio einzigartig – die fotografischen Produkte können sich dabei in Aufbau und Bildsprache ähneln und wirken manchmal fast austauschbar.

Die Klientel tritt mit bestimmten Vorstellungen und Wünschen an die Mitarbeitenden eines fotografischen Ateliers heran. Mit Beginn der kommerziellen Fotografie ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Möglichkeiten der Fotografie als Zeichen persönlicher und sozialer Identifikation erkannt, wie im Beitrag von Catharina Berents und Wolfang Kemp über Olympe Aguado und Virginia Oldoni, beide Teil des Hofzirkels um Napoleon III., deutlich wird. Sowohl Aguado als auch Oldoni setzten sich, unabhängig voneinander, wortwörtlich im Studio in Szene. Erstgenannter dabei in der Rolle als ambitionierter Amateurfotograf und Oldoni als eigensinniges Modell von Pierre-Louis Pierson.

In den Porträtinszenierungen des 19. Jahrhunderts spiegeln sich westliche Bildtraditionen – häufig wurden romantische Idealisierungen angestrebt, wie man sie von Gemälden kannte. Ein Zusammenspiel aus Dekorationen, Requisiten und vor allem Hintergründen ließ Illusionsräume entstehen, die die Kund*innen mit Hilfe der passenden Kleidung, dem richtigen Zuschnitt und einer finalen Bildbearbeitung durch die Fotograf*innen ausfüllten. Dabei waren der Fantasie keine Grenzen gesetzt: ob Salonatmosphäre mit schwer drapierten Vorhängen, gepolsterten Stühlen, Vasen und üppig gefüllten Obstschalen oder herrschaftliche Parklandschaften mit massiv anmutenden Säulen und einer Bank zum Verweilen.

Schon früh entstand ein globaler Markt für diese Art Zubehör als Teil einer sich internationalisierenden Kulturindustrie. Die Allgegenwart gemalter Hintergründe und anderer Requisiten wurde bislang in erster Linie als ästhetische Absonderlichkeit besprochen. Philipp Freytag nimmt in seinem Beitrag die Produzenten sowie die Herstellung und den Vertrieb dieser Erzeugnisse in den Blick. Im Zentrum steht dabei der Theater- und Dekorationsmaler Washington Lafayette Seavey, der mit seinen Produkten im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zum Weltmarktführer aufstieg. Industrialisierung, Globalisierung, rasant fortschreitende technische Entwicklungen, international agierende fotografische Vereine und ihre Organe, die Wissensvermittlung über Handbücher, das Messen auf Weltausstellungen und das Aufkommen institutionalisierter fotografischer Ausbildungsstätten professionalisierten den fotografischen Markt. Immer neue Anforderungen aus Industrie, Medizin und Wissenschaft erweiterten die Arbeitsbereiche für Fotograf*innen und Hilfsarbeiter*innen.

Soziale Bewegungen, wie die moderne Frauenbewegung ab Mitte des 19. Jahrhunderts, wirkten sich im Anwendungsbereich der Fotografie auf den sichtbaren Anteil von Frauen aus. Auch, wenn es nachgewiesen bereits ab den 1840er Jahren vereinzelt frauengeführte Studios gab, war die Möglichkeit auf Erwerb im männlich dominierten Atelierwesen meist auf Hilfstätigkeiten beschränkt: Frauen fanden Anstellung als Kopistin, Retuscheurin oder Empfangsdame. Der Zugang zu besserer Bildung und die fortschreitende Emanzipation veränderte das Atelierwesen ab Beginn des 20. Jahrhunderts deutlich: immer mehr Frauen gründeten und übernahmen fotografische Ateliers oder standen ihnen vor.

Yamazawa Eiko und Elli Marcus, beide Jahrgang 1899, etablierten sich in ihren Geburtsstätten als Porträtfotografinnen, Eiko in Osaka und Marcus in Berlin. Beide Fotografinnen kamen – unter anderen Umständen und zu anderen Zeiten – in die USA. Eiko temporär als Studentin, Marcus emigrierte dauerhaft. Ihr fotografisches Umfeld überschnitt sich zum Teil, beide gelten als Vertreterinnen der „Neuen Frau“. Eiko sah ihr fotografisches Atelier als feministischen und emanzipierten Raum, der es ihr ermöglichte, ihre Karriere nach eigenen Vorstellungen aufzubauen und sich ein weibliches Netzwerk zu schaffen, das zur persönlichen Inspiration, aber auch zur gegenseitigen Unterstützung diente. Und auch Marcus engagierte nur weibliche Assistentinnen. Andrea Nelson und Mila Ganeva ermöglichen durch ihre biografischen Zugänge vergleichende Perspektiven auf die Anpassungen von Studiopraktiken an sich verändernde Zeiten und Krisensituationen.

Neben der dem Studio innewohnenden und anhaftenden Porträtfotografie, gewann die Sach- und Produktfotografie in Zeiten des Wirtschaftswunders und den damit einhergehenden Werbemaßnahmen, besonders in der BRD, stark an Bedeutung. Welchen Raum die kommerzielle Arbeit eigenen fotografischen Experimenten ließ, wird im Beitrag von Katja Böhlau über die Fotografin Hansi Müller-Schorp deutlich. Ihre Berufsbiografie umfasst eine fotografische Entwicklung über 50 Jahre. Sie gibt persönliche Einblicke in die kollektiven Arbeitsprozesse des florierenden Ateliers für Fotodesign Willi Moegle und wirft dabei Fragen nach der Selbstdefinition einer Studioleiterin und ihres Werkes auf.

Das vorliegende Themenheft offenbart, dass das fotografische Atelier vielmehr ist als ein Raum, in dem benötigte Bilder gemacht werden. Das Studio ist ein Ort der Begegnung, der kreativen Freiheit und Selbstdarstellung, es kann ein geschützter Raum für verschiedene gesellschaftliche Gruppen sein, es ist ein wirtschaftlicher Betrieb, es kann zu einer Marke werden. Mit dem fotografischen Atelier verbunden sind Menschen, Studiobetreiber*innen und Mitarbeitende, die diesen Ort prägen und nach außen repräsentieren. Sie bringen erlerntes Wissen, neue Techniken mit in das Studio, adaptieren die Handschrift ihrer Lehrmeister*innen und entwickeln diese für sich weiter. Das Studio muss an fotografische Trends anknüpfen, für sich werben, Kundschaft akquirieren und halten. Technische Entwicklungen müssen aufgegriffen werden, um konkurrenzfähig und erfolgreich sein zu können. Die fotografische Praxis wird dabei durch verschiedene regionale, kulturelle, technische und geschlechterbezogene Gegebenheiten geformt. Wenn die Schwelle der Ateliertür einmal überschritten war, wurde sogar ein Helikopterflug möglich. Das fotografische Atelier: ein nicht zu unterschätzender Mikrokosmos für facettenreiche Perspektiven weiterer Forschungen.

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