Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Ulrich van Loyen

Once upon a time in the South

Zur Rolle des italienischen foto-libro für die Neuerfindung der italienischen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg

 

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 170, 2023

 

In Italien hatten die Corona-Pandemie und der allfällige Lockdown nicht zuletzt den Effekt, dass sich das Land wie unter einer Glasglocke wiederfand. Der allgemeine Weltzustand wurde greifbar anhand der strafbewehrten Vorgabe, die eigene Provinz nicht zu verlassen. Im Zuge dessen scheint es zu einer Neuaneignung des fremden Blicks aufs Eigene gekommen zu sein, zu einer neuen Aufmerksamkeit auf einen Blick auf sich selbst, wie er in den Fotobüchern seit den 1950er Jahren festgehalten ist. Auch wenn es dem Zufall geschuldet sein mag, dass zuletzt einige Bücher, die man lange Zeit nur mehr in Bibliotheken erhielt, wieder aufgelegt wurden, so ist deren Erscheinen gerade während der Pandemie ein naheliegender Ausgangspunkt, um über diese intrikaten Blickgeschichten nachzudenken. Zu diesen Büchern gehören Frank Cancians Fotostudie Lacedonia. A Town in Southern Italy (1957) genauso wie die Koproduktion von Paul Strand und Cesare Zavattini Un paese (1955), beide von größeren Verlagen mit neuen Einleitungen versehen und fast zeitgleich, im Oktober respektive November 2021, auf den Markt gebracht.

In jüngerer Vergangenheit wurde auf die Neuerung des foto-libro aufmerksam gemacht, die gegenüber einem bislang vornehmlich illustrativen Gebrauch der Fotografie entweder diese allein oder in Spannung mit dem Text sprechen lässt und so für die Gattung beispielhaft geblieben ist, bis hin zu Luigi Ghirris Arbeiten in den 1980er Jahren.[1] Ghirri selbst hat Un paese als einen „canto della terra“ bezeichnet, weil er „quel senso di comunità, quel ‚sentire comune‘“ (dt. „jenen Sinn von Gemeinschaft, jenen Gemeinsinn“) vermittle, das Person und Ort zusammenhält.[2] Man kann also mit Fug und Recht behaupten, jenes Buch habe die Funktion einer italienischen Selbstvergewisserung übernommen – als erstes nach dem Zweiten Weltkrieg. Wie weit dieser Versuch reicht, und vor allem: wie er hilft, sich des Selbst zu vergewissern, indem man über dieses hinausweist, soll Inhalt der folgenden Ausführungen sein.

Ein Film im Buchformat

Das Fotobuch Un paese zeigt 88 halb- oder ganzseitige Fotografien des damals in Europa und Amerika bereits berühmten Fotografen Paul Strand (1890–1976), der seit einigen Jahren in Frankreich lebte und in der McCarthy-Ära in den USA nicht gut gelitten war. Strands fotografisches Verfahren, die Isolation von Einzelelementen, die für sich stehend dem gleichwohl sichtbaren Kontext die Unterordnung verweigern, hatte bereits breite Anerkennung –  aber auch Kritik – hervorgerufen.[3] Die Steigerung dieses Verfahrens zur abstrakten Fotografie hatte Strand aber in den letzten Jahren wieder abgebrochen und in Frankreich erneut zur Darstellung sozialer Ensembles gefunden. Die Texte des foto-libro hingegen stammen von Cesare Zavattini (1902–1989), Theoretiker und Praktiker des italienischen Neorealismus. Ladri di biciclette, L’oro di Napoli oder Il giardino dei Finzi Contini sind nur einige der Drehbücher, die er vor allem für Vittorio de Sica verfasste. Er versuchte sich auch an Romanen, allerdings gewinnt man aus seinen Tagebüchern durchaus den Eindruck, dass er sich mit der Gabe, Material für die Bilder anderer bereitzustellen, sehr einverstanden fand. Un paese folgt einem multimedialen, wenn nicht: filmischen Prinzip, in dem Sinn, dass ober- und unterhalb der Bilder eine Art Choral mitläuft, aus dem die Stimmen der Porträtierten und/ oder nähere Bestimmungen des Porträtierten (eines Marktes, der Fresken auf einer Hausmauer) heraustreten. Zugleich ist das Buch ein fortlaufendes Verzeichnis von Verlusten – und dies nicht erst aus heutiger Perspektive, da die porträtierte Ortschaft unwiderruflich verschwunden ist, nicht nur, weil sie im letzten Frühjahrshochwasser teilweise untergegangen ist, sondern schon im Jahr 1955. Denn Cesare Zavattini stellt den Fotografien von Paul Strand ein Making-Of voran, das als Aufgabe der gemeinsamen Arbeit die Suche nach der verlorenen Zeit benennt. Zavattini wollte zu einem Porträt einer beliebigen italienischen Ortschaft anregen. Aber dann ist er mit dem berühmten Gast nach Luzzara gereist, seinem Geburtsort an der Grenze zwischen Emilia-Romagna und Lombardei, in den er selbst für viele Jahre keinen Fuß mehr gesetzt hatte. Beides, das unwiederbringlich Verlorene der eigenen Kindheit, wie auch die ‚Entrückung‘, ‚Verewigung‘ des Erinnerten, finden sich in den Bildern: so wird Zavattinis Vorwort eingerahmt von zwei Aufnahmen des Flusses, der zwar auf den Betrachter zu- aber dann in einer letzten Biegung knapp an ihm vorbeizufließen scheint. Im Hauptteil imponiert wiederum die frontale Gegenwart von Menschen, meist im Halbporträt, sowie von Häusern, Märkten und anderen sozialen Orten.

Dienst der gemeinschaftlichen Erneuerung

In Zavattinis Einleitung (im Folgenden in meiner Übersetzung) gewahrt man den Versuch, persönliche Geschichte und übernatürliche Geltung zu versöhnen, ebenso das neorealistische Programm. „Schauen wir uns gemeinsam die Fotos von Paul Strand an, unter denen man die Geständnisse meiner Landsleute lesen kann. […] Ein solches Werk [das „eine Seite jedem Bewohner Luzzaras“ widmet] möchte ich eines Tages verwirklichen, es ist nur noch eine Frage des guten Willens, wenn ich es nicht tue, wird es ein anderer tun […] in irgendeinem bewohnten Landstrich Italiens“.[4] Exemplarisch verstanden werden also Ort, Personen und auch derjenige, der sich ihnen widmet. Exemplarisch ist der Vorgang des Erinnerns, die Sorge um das Erinnerte. Und dieser Sorgezusammenhang stiftet am Schluss die Nation – Italien. Die so vorgestellte Gemeinschaft (um den kanonisch gewordenen Ausdruck von Benedict Anderson aufzugreifen) zeichnet sich durch eine Familienähnlichkeit des Stehens im Transitorischen aus, hier signifiziert durch den Gegensatz von Fluss und (meist frontal, seltener im Halbprofil realisiertem) Porträt. Zudem rückt sie die Arbeitswelt in den Mittelpunkt: den Choral von Luzzara tragen und gestalten als szenisches ‚Wir‘ die Tagelöhner, Schmiede, Hirten, Bauern, Käsereivertreter, ja auch Musikanten, die sich während der Touristensaison an den Strandbädern des Mittelmeers verdingen. Gelegentlich erscheint, im edlen Zwirn, ein Unternehmer. Meist geht aus den Texten hervor, dass die Personen arm – aber nicht elend – leben, wobei die Arbeit selbst die Menschen mehr in der Welt hält, als Reichtum es je könnte. Beispielhaft dafür ist der Saisonviolinist, der überlebt, weil „ich allein lebe und kaum esse, wie ein Vögelchen. […] Nach der Saison kehre ich nach Luzzara zu den Verwandten zurück und halte die Finger in Übung, aus Angst, sie könnten verhärten.“

Auf der Seite gegenüber sieht man ein „Casale“, ein Landhaus, unter einem bedrohlich zugezogenen Himmel im ersten Frühling: „Wenn ein Unwetter naht, während ich Heu ernte, lege ich mir eine Garbe über den Kopf wie einen Regenschirm und fliehe nachhause.“). Inmitten dieser Menschen, Orte und Dinge gibt es keinen locus amoenus, nicht die Heimat als sicheren Hafen, sondern eher Beheimatung als Rhythmus der praktischen Besorgungen. Dieser Rhythmus, gemeinhin vertieft und legitimiert durch Feste und religiöse Riten, stellt die eigentliche kulturelle Reserve der Menschen dar. Nur ist von solcher Vertiefung in den Bildern wenig zu sehen: die Bilder selbst treten an ihre Stelle. Man könnte sagen, die Betrachtung dieser Bilder sei selbst schon Zivilreligion. Vermutlich beruht darauf der (Verkaufs-)Erfolg des foto-libro – nach der religione civile, die der Faschismus zwar versprochen, aber nicht eingelöst hatte: ein permanentes Sehnsuchtsmotiv des Post-Risorgimento. Außerdem, und dieser Aspekt darf mit Blick auf die Entstehungszeit nicht außer Acht gelassen werden, weist diese Selbstdarstellung Italiens als „umile“, als demütig auf die von der Landschaft aufgegebenen Besorgungen verpflichtet, einen Weg, die innere Spaltung zu heilen, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs als ein verdeckter Bürgerkrieg zwischen Anhängern des Faschismus und der Partisanen das Land und jede einzelne Ortschaft durchzog. Es ging, auch in der offiziellen Rhetorik, nicht so sehr ums Siegen als um die Würde der Arbeit: „Italien ist eine demokratische Republik, die auf der Arbeit gründet“, heißt es seit 1947 optimistisch im ersten Artikel der neuen Verfassung.

Italienische Spoon-River-Anthologie

Gleichwohl scheint ein weiteres Erfolgsgeheimnis von Un paese in einem fremden Blick zu bestehen, der für den eigenen Blick Wesentliches enthüllt: Das Amerikanische. Das epische Realsymbol des Flusses und die schwarz-weißen Fotos, die ein Moment stillstellen, es monumentalisieren und damit auch mortifizieren, sowie das Unspezifische des Ortes selbst, verweisen motivisch auf einen amerikanischen Longseller in Italien: auf Edward Lee Masters Spoon River Anthology, deren englisches Original 1915 und deren italienische Übersetzung durch Fernanda Pivano 1943 publiziert wurde. Sie enthält zu kurzen Gedichten geronnene Lebensbeichten von jenseits des Grabes, aus deren Lektüre sich die Geschichte des Ortes am Fluss zusammensetzt. Fernanda Pivano hat herausgestellt, dass diese lyrischen Epitaphe  „erzählen“ und nicht „deklamieren“, sie und ihr Auftraggeber, der Schriftsteller Cesare Pavese, fanden gerade darin ein Gegengewicht zur „sontuosità“ faschistischen Sprechens.[5] Auch die Spoon River Anthology half in der italienischen Poesie zu einer Durchdringung von Alltags- und Hochsprache, wobei der Gestus des Sprechens wichtiger war als das sprachliche Material – der „dialetto“, in dem beispielsweise Pasolini einer Art ursprünglichen Bezugs zwischen Sprachen und Dingen auf der Spur war – und das darum rascher zu einer neuen literarischen Hochsprache werden konnte, vor allem bei Autoren aus der Emilia Romagna wie Gianni Celati (1937–1922), Schriftsteller und Amerikanist, der – und hier schließt sich der Kreis – in einem später von ihm kuratierten Fotoband ausdrücklich auf Un paese Bezug nahm.[6]

Die Aneignung des fremden Blicks auf das Eigene wiederholt sich am fremden Eigenen. So jedenfalls lautet eine These, die Mario Antonio Bazzocchi in seiner für die italienischen Kulturwissenschaften maßgeblichen Studie L’Italia vista dalla luna (2012) aufstellt. Darin untersucht er die Blickregime, die die unteren Klassen, die Subalternen, im italienischen Norden und im Süden ‚konstruiert‘ haben. Er argumentiert, dass, was vor allem ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre im italienischen Mezzogiorno stattfand, zuvor in den nördlichen Regionen – und eben in Luzzara – probiert worden sei: ein Zusammenspiel von Bild und anthropologisch funktionalisiertem Text, die starke Typisierung und Entzeitlichung der Menschen anhand der Frontalaufnahmen ihrer selbst und ihrer Arbeitsgegenstände.[7] Tatsächlich kann man aber in den Bildern des italienischen Südens ein Moment identifizieren, das auf denen des Nordens wesentlich fehlt: das Magische. Dies gilt schon dort, wo wie etwa in der Malerei Carlo Levis – der während des Zweiten Weltkriegs in die Basilikata verbannt worden war, worüber er seinen Roman-Essay Christo si è fermato a Eboli (1945) verfasste – die angetroffenen Personen zwar in ihren Zügen realistisch wiedergegeben, jedoch in gleichsam flirrenden Aureole eingefasst werden. Und das gilt noch mehr für die seit 1955 gedrehten Dokumentarfilme: der Regisseur Luigi di Gianni gibt an, den italienischen Süden mit seinen exaltierten Trauerritualen, seinem devotionalen Katholizismus, seiner Streitkultur und seinen bizarren Landschaften auch deshalb gewählt zu haben, weil er, begeistert vom deutschen Expressionismus, „Kino machen“ wollte, und er darum die „brennende Leinwand“ gleichsam dokumentarisch dort ausrollte, wo es nur geringen finanziellen Aufwand erforderte.[8] Schließlich gilt es auch für die Fotografie selbst, für die Bilder von Michele Gandin oder Franco Pinna, die den Neubegründer der italienischen Religionsethnologie, Ernesto de Martino (1908–1965), auf seinen „spedizioni“ begleiteten und beispielsweise die Tarantelbesessenen im südapulischen Nardò und Galatina ablichteten, vor weißleuchtenden Häuserwänden oder inmitten staubverwehter Straßen und unter einer Sonne, die Wahnsinn und Lähmung gleichermaßen heraufbeschwor. Diese Bilder halten den Süden als ein existenzialistisches Theater fest, das sich zwischen Mensch und Umwelt, seltener zwischen Mensch und Mitmensch, einstellt. Hier toben sich, teilweise auch gegen die Intentionen der mitreisenden Ethnologen, Tendenzen aus, die von norditalienischen Motiven weitaus geringer evoziert wurden. Anders gesagt: man ist hier weit weg von Amerika. Nämlich in Afrika.[9]

Viele der Fotografen oder Filmemacher des italienischen Südens sind wenig erfolgreich geblieben, selten kamen sie zu großen Aufträgen. Gianfranco Mingozzi, Franco Pinna, Luigi di Gianni – sie alle haben zwar ihr Publikum gefunden, aber in den neorealistischen ‚Mainstream’ gerieten sie nicht. Etwas anders liegt der Fall vielleicht für Cesare Zavattinis Sohn Arturo, der bereits 1952 für Ernesto de Martino in der Basilikata, genauer in der Rabata von Tricarico, fotografierte, und von dem in den 1950er Jahren eine Fotoserie zu Neapel überliefert ist, mit Straßenszenen und einem guten Auge für das Verspielte und Absurde, wie man es auch aus Cartier-Bressons Parisbildern kennt. Ansonsten vereint die italienischen Fotografen der südlichen Binnenexotik und die Amerikaner höchstens die Tendenz zur Entzeitlichung. Aber diese ist für sich genommen ein zu kleiner gemeinsamer Nenner.

Die Aneignung des fremden Blicks

Die Aufmerksamkeit für die innovative Zusammenarbeit von Paul Strand und Zavattini hat in der Forschung die Tatsache verdrängt, dass über Mittel- und Süditalien in den 1950er und 1960er Jahren eine umfangreiche amerikanische Bilderproduktion mit genuin wissenschaftlichem Anspruch einsetzt. Sie geht, wie der Kulturanthropologe Francesco Faeta unlängst dargelegt hat, auf die Community Studies der Chicago School zurück, also auf eine qualitativ, durchaus mit ethnologischen Methoden wie der stationären Feldforschung arbeitende Soziologie.[10] Alan Lomax (1915–2002) oder Frank Cancian (1935–2020) fertigten gleichsam Porträts ihrer – oftmals ersten – Forschungsstätten an: von der baulichen Gliederung des Ortes über Porträtaufnahmen der wesentlichen ‚Informanten‘ und schließlich ihrer Tätigkeiten entsteht so eine mehrschichtige Aufnahme der empirischen Realität. Es sind meist Bilder, in denen, anders als bei Zavattini oder den Fotografen des italienischen Südens, die auktoriale Handschrift fehlt, unbesorgt um den sprechenden Moment, auch wenn hier und da das Einfangen eines solchen glückt. Hier ist es der Ordnungswunsch des Akademikers, der seine Gegenstände aus der Zeit nimmt und sie damit erneut einer Spiegelung der Idee des ‚ewigen Südens‘ dienstbar macht (es geht dann etwa schrittweise von der Vogelperspektive eines Dorfes bis hinein in dessen Gassen). Im Fall Cancians gibt es allerdings eine reizvolle Besonderheit: seine fotodokumentarische Ausbildung erfolgte während eines Aufenthalts in Arizona, bei den Pueblos der Hopi. Verdankt sich diesem etwa der gleichsam strukturalistische Sinn für Architektur, für Ecken und Kanten? Im Gegensatz zu Franco Pinna, der de Martinos Aufenthalt in der Basilikata fotografiert und dabei eine Jahre später als konstruiert entlarvte „Magierin“ ablichtet, deren Bild für die italienische Inlandsfotografie sprechend geworden ist, entdeckt Cancian, der zur gleichen Zeit fotografisch tätig ist, keinerlei magische Praktik als Symbol der angeblichen Rückständigkeit des italienischen Südens. Anstatt eine in reiche Großgrundbesitzer und arme Tagelöhner auseinanderfallende Gesellschaft mit ihren allfälligen Reparaturtechniken porträtiert er eine stratifizierte Gemeinde, deren religiöse Feste Verdichtungen und Reproduktionen sozialer Ordnung darstellen, keine Notwehr gegen das Ende der Zeit. Außerdem gibt es in diesem Œuvre – ähnlich wie bei David „Chim“ Seymour, der seine Serien als Mitgründer der progressiven Fotoagentur Magnum schoss – eine gewisse Aufmerksamkeit für soziale Praktiken, in denen die Unterschichten des Mezzogiorno ihre gesellschaftliche Teilhabe erkämpfen: nämlich für Schulbildung, an der auch ältere Bauern teilnehmen, oder für Demonstrationen. Anders als die Fotografen und Filmemacher um Ernesto de Martino suchen also diese Dokumentaristen nach Spuren einer eher konventionellen Behebung der „miseria“ (F.G. Friedmann), nicht nach einer Alternative, einer anderen Moderne, oder der Austreibung des (Waren-)Fetischismus im Exzess. Ebensowenig hatten sie vermutlich Kenntnis von Gramscis „progressiver Folklore“.[11]

Abschließend liegt es nahe, einen Moment innezuhalten und zu überlegen, ob der amerikanische Blick, nachdem man versuchte, ihn sich anzueignen, auch umgelenkt werden konnte und das Feld erschuf, in das dann „Amerika“ eintreten konnte. Die USA sind in der italienischen Hoch- und Populärkultur schließlich ein ausgesprochen ambivalentes Gelände, ausgesetzt der Sehnsucht und der (gerade unter Akademikern im Kalten Krieg gepflegten) Verachtung. Antonello Gerbi zeichnete in seinem kulturhistorischen Klassiker La disputa del nuovo mondo (1955) die Polemik um die „Inferiorität“ der transatlantischen Welt nach. Sergio Leone ließ seinerseits Ehre und Schande im Leerraum des Wilden Westens los und erzählte italienische Geschichten vor dem Hintergrund der Befreiung von klientelistischen Netzwerken (Once upon a time in the West, 1968). Amerika erweist sich hier als besonderer italienischer Möglichkeitsraum, das gilt auch für die Musik (Ennio Morricone). Es scheint, als gewänne hier das Epische jenseits seiner Beschränkung durch die Formalismen einer kleinteiligen segmentären Gesellschaft an Profil – seltsamerweise konterkariert von einer amerikanischen Literatur, die, wie Werner Hamacher einmal meinte, immerzu ihre epischen Aufbrüche an der nächsten Straßenecke beende. In Italien geht dieserart ‚amerikanische‘ Poetik in den Jahren nach Strands Bildern für Un paese durch Literatur, Fotografie und Film, ja es scheint, als ermöglichten erst diese Bilder einer Kultur episch zu werden, die davor durch den kleinbürgerlichen Kontext eingesperrt geblieben war.[12] Das gilt für Gianni Celati, der in der Folge am italienischen Po einen Mikrokosmos entwarf, der es sonst vielleicht nur mit Mark Twains Bewohnern des Mississippi aufnimmt (Celati lieh ihnen in seiner Übersetzung nicht umsonst das Idiom der Po-Ebene), aber es gilt natürlich ebenso für die Filme Federico Fellinis. Die Interiorisierung Amerikas, die eben durch die „foto libri“ und deren intime Zuhandenheit  (Martin Heidegger) angestoßen worden war, bildete die Voraussetzung, um sich auf Amerika beziehen zu können und es gleichzeitig zu dekonstruieren.[13]Tutto o’munno è paese, wie es heißt. Damit sind sie die Bedingungen eines world making zwischen Provinz und Universalität, deren sich Italien in seinen kritischen Momenten erneut versichert.

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[1]  Siehe Marina Spunto: Appunti su una linea del fotolibro italiano: Un paese, Il profilo delle nuvole e Viaggio in un paesaggio terrestre, in: Zibaldone 55, 2013, S. 58–65.

[2]  So laut Antonella Russo: Storia culturale della fotografia. Dal Neorealismo al Postmoderno, Turin, 2011, S. 161.

[3]  Siehe den von Elena Gualtieri herausgegebenen Band: Paul Strand, Cesare Zavattini: Lettere e immagini, Bologna 2005.

[4] Paul Strand, Cesare Zavattini: Un paese, Turin 2021 [1955], S. 1.

[5]  Man könnte also die Übersetzung als kritischen Beitrag zu einer „religione civile“ oder besser: einer „religione incivile“ hervorheben, da sie die Randständigen explizit einbegreift. Diese Tradition setzt sich unter den linken Autoren (z.B. Danilo Monaldi) und ‚cantautori‘ (Fabrizio De André) fort.

[6] Siehe Gianni Celati, Luigi Ghirri: Il profilo delle nuvole, Mailand 1989.

[7] Siehe Mario A. Bazzocchi: L’Italia vista dalla luna. Un paese in divenire tra letteratura e cinema, Mailand 2012, S. 11ff.

[8] Siehe Luigi di Gianni: Tra magia e realtà. Il meridione nell’opera di un cineasta, Rom 2001, sowie das Interview mit dem Verfasser in: Andrea Benedetti, Ulrich van Loyen: The Mediterranean as a Source of Cultural Criticism, Mailand 2019, S. 261–272.

[9] So zumindest meint es Salvatore Quasimodo im Kommentar zu Mingozzis Film La taranta, Italien 1962.

[10] Siehe Francesco Faeta: Vi sono molte strade per l’Italia, Soveria Mannelli 2022, S. 5–37.

[11] Antonio Gramscis Gefängnistagebücher (Quaderni dal carcere) erschienen zwischen 1948 und 1951. Allerdings sieht man auf manchen Bildern Cancians auf den Betrachter Reihen von Bauern zuschreiten, sei es anlässlich einer Demonstration oder einer Prozession, die somit unweigerlich Pelizza da Volpedos Gemälde Lo quarto stato (1898–1901, Museo del Novecento, Mailand) zitieren, das sozialrevolutionäre Gemälde par excellence (und nicht nur Italiens: Joseph Beuys zitiert es wiederum in La rivoluzione siamo noi, 1972).

[12] Laut Thomas Steinfelderreichte die „amerikanische Moderne die italienische Provinz nicht nur in Gestalt von glänzenden Automobilen, von Jukeboxes und Nietenhosen“, sondern brachte auch „die sich scharf gegen den Horizont abhebende Silhouette mit.“ Vgl. Thomas Steinfeld: Italien. Reise durch ein fremdes Land, Berlin 2020, S. 349. Als einsame Gestalt vor einem diffusen Horizont ist ihre Voraussetzung der Nebel. Genau dafür macht ihn sich Michelangelo Antonioni ab dem unmittelbar am Po angesiedelten Film Il grido (1957) zunutze. Darin kann man beispielhaft eine amerikanische Überblendung oder besser ‚Einblendung‘ erblicken, die eine bis dahin in Italien nicht gekannte Ästhetik des Epischen hervorbringt.

[13] Diese Dialektik wird belegt durch die Beobachtung, dass Amerika zumindest im italienischen Film als ein Zustand „out of place“ und eben nicht als bestimmbarer Ort vermittelt wird: in Paolo Sorrentinos This must be the place (2011) genauso wie in Luca Guadagninos Bones and All (2022) oder in den Dokumentarfilmen von Roberto Minervini, z.B. Louisiana (The Other Side) (2015).

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