Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Elmar Mauch

Zwischen Bildern und Stühlen

Künstlerische Bildforschung und die Überwindung des klassischen Archivgedankens

Erschienen in: Fotogeschichte 146, 2017

Im Unterschied zu klassischen Bewahrsituationen für fotografische Bilder in Archiven gibt es im Archiv der verwaisten Bilder[1] keinerlei Grundvoraussetzungen an die fotografischen Archivalien. Weder in technischer, noch formaler Hinsicht sind Einschränkungen definiert. Auch ein in Auflösung befindliches Bild kann zum Forschungsgegenstand werden. Im 2011 gegründeten Institut für künstlerische Bildforschung (IKB), einem ein hybriden Projekt, das zwischen intelligenter Bildforschungstätigkeit und künstlerischem Statement angelegt ist (ww.ikb-bildforschung.de), herrscht die Überzeugung, dass durch einen radikalen, aber auch behutsamen, anti-archivarischen Eingriff ungeahntes Potential aus fotografischen Bildern kondensiert und sichtbar gemacht werden kann. Und mehr noch: dass zwischen den Stühlen der einzelnen wissenschaftlichen Ausrichtungen mehr Erkenntnis zu gewinnen ist als auf deren breitgesessenen Sitzflächen.

In klassischen Archiven bildet stets eine, von wissenschaftlichem Denken abgesicherte Motivation, die Grundlage für das Archivieren und Bewahren.[2]Herkunft und Kontexte müssen geklärt sein, denn hierauf basiert die spätere Forschungsarbeit. Wissenschaftliches Arbeiten geht zumeist von Gesichertem aus und fügt dem Bekannten ein weiteres Mosaiksteinchen hinzu. Der Aufbau von hierarchischem Denken wird so weiter abgesichert und durch die genannte Archivpraxis unterstützt.[3] Keine Spekulationen bitte! Demgegenüber ist das Archiv der verwaisten Bilder ein Bastard. Benimmregeln werden nicht akzeptiert. Beim IKB steht ein anti-archivarischer Umgang[4] im Zentrum des Tuns. Der innerbildliche Gehalt anonymer Fotografien wird erforscht und durch künstlerisch-gestalterische Interventionen freigelegt und sichtbar gemacht.

In einer klassischen Fotografischen Sammlung erhielt der Autor und Leiter des IKB[5] mehrwöchigen Einblick und Anschauungsunterricht in den musealen Archivalltag. Dieses hierarchische, knöcherne Bewahren von gesicherten Werten hatte bei ihm geistige Ermüdungserscheinungen und Abstoßungseffekte zur Folge – und wirkte noch lange nach. Das klassische, gut beschreibbare Bild mit klarem Kontext, steht wie ein goldenes Kalb im Mittelpunkt – wird bewahrt, gefeiert und zementiert. Eine Umgangsweise, die einerseits wichtig ist, aber gleichsam viele der Stärken und Wirkungsweisen von fotografischen Bildern ausblendet. Hier stellt sich die Frage, ob durch einseitige Sammlungskonzepte, die der fotografischen Hochkultur zuzuordnen sind, nicht vielleicht ein anderer, ebenfalls wichtiger Teil des Fotografischen vergessen wird. Was ist mit den ungesicherten, virulenten, emotionalen, affektiven und energetischen Momenten die in fotografischen Bildern niedriger Provenienz gespeichert sind? Diese nichtzentrierten, ungeschliffen und nicht auf die eine Botschaft hin optimierten Bilder stecken voller ungeahnter Möglichkeiten und Details.[6]

In den Schubladen unserer Eltern und Großeltern hat sich über die Zeiten ein riesiger Fundus anonymer Fotografien angesammelt. Langsam verschwindet dieser und taucht nach und nach auf Flohmärkten und in Trödelläden wieder auf. Losgelöst von den ursprünglich persönlichen Bezügen blicken wir auf sogenannte Knipserfotos[7], welche die Sichtweisen einfacher Menschen auf ihre Lebenswirklichkeiten widerspiegeln. In diesen Nachlässen und Konvoluten finden sich auch persönliche Bilder von Soldaten, vom Kriegsgeschehen und dessen Auswirkungen auf Menschen und Leben.

Diese teils brisanten Fotografien werden begleitet von standardisierten Aufnahmen von Berufsfotografen, die zu besonderen Anlässen wie, Jubiläen, Hochzeiten, oder für Portraits und Passbilder aufgesucht wurden. Diese privaten Fotobestände sind von ihrem visuellen und kulturellen Gehalt höchst unterschiedlich, zugleich aber ungemein spannend. Denn in ihnen haben sich familiäre, individuelle, kulturelle und zeitgeschichtliche Spuren eingegraben. In der Masse dieser privaten, für Außenstehende vielleicht nur wenig interessant erscheinenden Fotos werden deren innen liegende Spuren nur unzureichend sichtbar.Da im Übergang zwischen den Bildern einige der Urkräfte des Fotografischen verborgen liegen, ist es eine große Herausforderung, die anthropologischen Besonderheiten und die suggestive Kraft, die in diesen anonymen fotografischen Materialien verborgen ist, mit künstlerischen Methoden herauszuarbeiten (Abb. 1 und 2).

Nach Meinung verschiedener Fotohistoriker,u.a. von Allan Sekula,  bestimmt der Kontext das Bild.[8] Anonyme Fotografien haben demnach keinerlei Bedeutung. Dieses vermeintliche Manko kann aber auch zur Stärke werden. Denn im Verbund mit starken Ideen und intelligenten Konzepten können die Bilder in Verknüpfung mit anderen Bildern über sich selbst hinausweisen und ihre Verbindung zur Welt und deren Bedingtheiten aufzeigen[9].

Seit Jahren ist der künstlerische Umgang mit fotografischem Archivmaterial angesagt. Im Zugriff und im Umgang mit fotografischem Material fällt auf, dass bei vielen Bildarbeitern fehlende Kontexte durch das Ansammeln von Bildern mit ähnlichen Motiven und durch die Bildung von Typologien ersetzt wird. Ein gängiger Reflex. Peter Piller hat z.B. originelle Typologien aus Zeitungsbildern geschaffen. Der Niederländer Erich Kessels hat die Form der Typologisierung in seiner Reihe „In Almost Every Picture“ nun geradezu popularisiert. Bei typologischen Umsetzungen, welche eine der gestalterischen Möglichkeiten im Umgang mit Archivmaterial nutzen, sind Ordnungskriterien am Werk. Das immer Gleiche oder Ähnliche zu sehen erlaubt einerseits rasche Erkenntnisse, aber andererseits lauert die Gefahr einer oberflächlichen, eindimensionalen und unterkomplexen Anschauung.

Müssen wir nicht einen Schritt weitergehen und mit intelligenten und experimentellen Strategien und Methoden tiefer ins Material hineingehen?[10] Drei Verbündete lassen sich für eine weitergehende künstlerische Bildforschung herauskristallisieren: Erstens, die Philosophie für grenzüberschreitendes Denken. Zweitens, die Kunst mit ihren experimentellen und das Medium erweiternden Methoden, und, drittens,Das Gespür für poetische Zusammenhänge, die für Kontemplation, Formfindung und Tiefe wichtig sind.

Das Denken in Bildern: Für die Beurteilung, Sichtung und Befragung der anonymen Bilder ist die Definition des „Punctum“ von Roland Barthes ein wichtiger Anhaltspunkt.[11] Denn auch Barthes geht von innerbildlichen Wirklichkeiten aus, befragt das, was zu sehen ist und beschreibt sensibel, was er dabei spürt und erinnert. Beim Betrachten von Bildern verschwundener Menschen stellen sich manchem Betrachter existenzielle Fragen. Es wirken Gefühle und Gedanken auf uns, die unsere Wahrnehmung unter die Oberfläche der Bilder abtauchen lässt. Der französische Philosoph Henri Bergson hat unser Bewusstsein in zwei Schichten eingeteilt: ein Oberflächlichen-Ich und ein Tiefen-Ich.[12] Er stellte fest, dass zum Tiefen-Ich nur in der Reflexion und der Kontemplation vorzudringen ist. Beim Denken in Bildern sind wir Beobachter von Beobachtern. Vielleicht fragen wir uns in diesem Moment auch wie fotografischer Sinn entsteht? Eine mögliche Antwort darauf: Sinn ist nichts, was in den Dingen liegt, sondern in unserem Blick darauf.

Schlussfolgernd aus all diesem lässt sich feststellen, dass intelligente Fragestellungen, Sensibilität und verschränktes Denken unverzichtbare Grundvoraussetzungen für eine wirksame, in Tiefen dringende künstlerische Bildforschung sind (Abb. 3). Darüber hinaus bedarf es der Entwicklung und des Einsatzes von experimentellen, künstlerisch-gestalterischen Methoden um die visuell überlieferte Artefakten von ehemaligen Gegebenheiten aus ihrer zeitlichen Festsetzung herauszulösen und zu re-emotionalisieren.[13] Jenseits der stillgestellten Fotografien in den klassischen Archiven wird im IKB durch die Verschränkung verschiedener Denkdisziplinen und praktischer Methoden, mit Bildkompetenz und visueller Intelligenz interdisziplinär, digital, expressiv, emotional und experimentell ins Rohmaterial Bild hineingegangen (Abb. 4). Sehen und Denken werden dabei kurzgeschlossen und so eine vitale, multiperspektivische, bildnerische Bild-Forschung „von unten“ etabliert.

„Wir haben die Bilder und suchen Bilder in den Bildern“, so lautet der Forschungsauftrag des IKB. „Wir versuchen mit einer der Kunst entlehnten meta-fotografischen Arbeitsweise hinter ihre Geheimnisse zu kommen. Es ist ein Denken in Bildern, über Bilder. Gesucht ist eine Tiefe der Gedanken, ein Abtauchen unter die Oberflächen der Bilder. Gesucht ist eine Form, die über die Bilder hinausweist und dadurch Resonanzräume für Erkenntnis und visuelle Poesie bildet.“


[1] Das „Archiv der verwaisten Bilder“, eine umfangreiche Sammlung von mittlerweile mehr als 100.000 Aufnahmen von Alltagsfotografien, ist Teil des 2011 in Dortmund gegründeten „Institut für künstlerische Bildforschung“ http://www.ikb-bildforschung.de/

[2] Hélène Kaizer: From the Lycée Technique Privé Emile Metz tot he CNA, Integrating a collection of glass plates into a public archive service, in: Forging a Modern Society, Photography and Corporate Communication in the Industrial Age, Luxemburg 2017, S. 171.

[3] Siehe hierzu: Karin Hartewig: Panofsky, Imdahl und die Müllers, Fragen an ein Foto und Methoden der Bildanalyse, in: Fotogeschichte, Heft 124, 2012, S. 67.

[4] Unter dem Begriff anti-archivarisch wird ein respektvoller, aber auch radikaler Umgang mit dem Archivmaterial verstanden. Dieser radikale Umgang ist notwendig um Inhalte und Konstellationen freizulegen und mittel eigens dafür entwickelten künstlerisch-gestalterischen Methoden sichtbar zu machen. Gleichzeitig gilt es vordergründige Effekte zu vermeiden. www.ikb-bildforschung.de/kuenstlerische-bildforschung/methodik/

[5] Bernd Stiegler: Dekalog für einen künstlerischen Bildforscher. Elmar Mauchs Arbeit am Bild, in: Bernd Stiegler, Photographische Portraits, Paderborn 2015, S. 167-183

[6] Siehe hierzu: Dieter Hacker, Andreas Seltzer (Hg.): Volksfoto, Zeitung für Fotografie, Nr. 1-6, Frankfurt/M. 1981

[7] Timm Starl, Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980, München 1995, S. 22-24.

[8] Allan Sekula: Den Modernismus demontieren, das Dokumentarische neu erfinden, in: Hubertus v. Amelunxen (Hg.): Theorie der Fotografie IV, München 2000, S. 125.

[9] Elmar Mauch: Die Bewohner, Zürich 2009, weitere Künstlerbücher und Bilderhefte unter: www.ikb-bildforschung.de/kuenstlerbuecher/

[10] Serge Stauffer in einem Brief: „Gemessen an dem was ich als ‚Kunst’ bezeichne, sehe ich wenig Forschung im Film und in der Fotografie – viele Klischees, Anpassung, Form und solche Scheiße.“ in: Serge Stauffer: Kunst als Forschung, Zürich 2013, S. 178

[11] Roland Barthes, Die helle Kammer, Frankfurt a.M. 1980.

[12] Christoph Kersten: Partizipation und Distanz: Henri Bergsons hermeneutische Philosophie, Freiburg/München 2015, S. 283-285.

[13] Zu gestalterisch-künstlerischen Methoden: Elmar Mauch, Über die Veränderung des Blicks, Kontextwandel – Ein Fallbeispiel, in: Irene Ziehe, Ulrich Hägele (Hg.): Eine Fotografie, Über die transdisziplinären Möglichkeiten der Bildforschung, Münster 2017, S. 86.

 

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