Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Distanz, um zu sehen

Fotografie und historische Zeugenschaft.

Ein Gespräch mit dem Kunsthistoriker Peter Geimer

 

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 166, 2022

 

„Die Vergangenheit lässt sich nicht fotografieren“, sagt Peter Geimer. „Fotografieren lässt sich nur, was gerade jetzt geschieht, historisch werden Fotos deshalb immer erst nachträglich.“ Ob und wie sich die Fotografie, aber auch die Malerei und der Film, als Zeugnisse des Vergangenen lesen lassen, analysiert der Kunsthistoriker in seinem neuen Buch Die Farben der Vergangenheit. Wie Geschichte zu Bildern wird (C.H. Beck, 2022). Der Autor plädiert für einen skeptischen, distanzierten, zugleich aber auch neugierigen und offenen Blick auf die Bilder. „Distanz ist nötig, um überhaupt etwas zu sehen. Wer die Distanz zur Geschichte beseitigen will, zielt letztlich darauf, das Historische selbst zu beseitigen und sich selbst und die eigene Gegenwart an ihre Stelle zu setzen.“ Peter Geimers Reflexionen bieten weit über die Kunstgeschichte hinaus Anregungen, die komplexen Verbindungen zwischen Bild und Geschichte neu zu denken. Wir haben ihn zu einem Gespräch gebeten.

Anton Holzer: Herr Geimer, fotografieren Sie eigentlich?

Peter Geimer: Ja, aber nur mit dem Smartphone und ohne jeglichen ästhetischen Anspruch. Ich halte einfach fest, was mir auffällt und was ich ohne Foto vergessen würde. Mit fünfzehn, sechzehn habe ich sehr viel fotografiert, die Bilder auch selbst entwickelt. Für mein Interesse am Materiellen der Fotografie war das Hantieren mit den Chemikalien sicherlich wichtig, vor allem die schöne Erfahrung, ein latentes Bild im Entwicklerbad allmählich auftauchen zu sehen.  

Und sammeln Sie Fotos?

Nein. Ich freue mich aber, dass andere das tun. Mir selbst ist die Passion des Sammelns, ganz gleich um welche Objekte es sich handelt, immer eigentümlich fremd geblieben. Ich schaue gerne Bilder an, die ich nicht besitze.

Bücher entstehen meist ja aus größeren Arbeitszusammenhängen heraus. Können Sie bitte kurz schildern, vor welchem Hintergrund Ihr Buch Die Farben der Vergangenheit entstanden ist.

In meiner kunsthistorischen Dissertation ging es um die Frage, wie sich im achtzehnten Jahrhundert, also der Zeit der großen Ausgrabungen antiker Fragmente und der Grand Tour zu den Ruinen des Altertums ein kunsthistorisches Denken herausbilden konnte. Die Ruinanz der antiken Welt, so die These der Arbeit, war kein historiografischer Kollateralschaden, sondern im Gegenteil die positive Bedingung, um aus der historischen Distanz heraus die Geschichte der vergangenen Kunst überhaupt erst schreiben zu können. Nach der Doktorarbeit wollte ich dann etwas ganz anderes machen und fing an, mich für Fotografie zu interessieren. Nach einer Weile stellte ich fest, dass sich das scheinbar abgelegte Thema – die Verschränkung von Gegenwart und Vergangenheit – nach und nach doch wieder herauschälte. Im besonderen Fall der Fotografie betrifft das ihr Potenzial, einen Augenblick dauerhaft stillzustellen und einer späteren Zeit als eine Art Fossilie des Gewesenen vor Augen zu stellen. Um nichts anderes geht es ja auch im Fotografie-Kapitel des neuen Buchs. Gegen Ende läuft das auf die Frage heraus, ob ein solches, eng an den Fototheorien Siegfried Kracauers und Roland Barthes‘ orientiertes Verständnis der Fotografie unter digitalen Bedingungen antiquiert ist oder aber in veränderter Form überlebt. Für die konkrete Frage nach dem Geschichtsbild war aber sicherlich noch ein zweiter Arbeitszusammenhang entscheidend – meine Übersetzung von Georges Didi-Hubermans Bilder trotz allem, das die Frage nach den Möglichen und Grenzen visueller Rekonstruktion ja im Kern berührt.

Fangen wir zunächst ganz vorne an, mit dem Umschlag Ihres Bandes: Dort findet sich ein Ausschnitt aus einem Autochrome-Bild aus dem Jahr 1907 von Heinrich Kühn. Zu sehen sind eine Frau und drei Kinder (es sind die Kinder des Fotografen) in Rückenansicht auf einer Wiese, dahinter Horizont und Himmel. Eine typisch piktorialistische Szene, die zwar etwas zu sehen gibt, zugleich in ihrem Verweis auf die Realität auch seltsam unscharf bleibt.

Ja, richtig, genau darum ging es. Ich wollte für das Buchcover kein Historiengemälde wählen, auch wenn es in zwei Kapiteln ausschließlich um Historienmalerei geht. Ein Gemälde aus dem achtzehnten oder neunzehnten Jahrhundert hätte den aktuellen Zeitbezug des Themas und die gegenwärtige Bedeutung der Medien Fotografie und Film zu sehr überdeckt. Das Problem bei Fotografien auf dem Buchcover besteht dann aber darin, dass man zwangsläufig denkt, das Foto illustiere den Gegenstand des Buchs. Das Coverfoto zeigt die Stadt Köln, also denkt man, Thema das Buches sei die Stadt Köln, auch wenn es vielleicht viel eher um die visuelle Repräsentation vonStädten, also eine ästhetische und mediale Fragestellung geht. Wie kann man also andeuten, dass die Aufmerksamkeit nicht nur auf das fotografisch Dargestellte, sondern auch auf die fotografische Art und Weise der Darstellung selbst gerichtet werden soll? Das ist möglich, indem man zum Beispiel eine unscharfe Fotografie wählt, ein Bild, das zugleich mit dem dargestellten Gegenstand auch auf die besondere – nämlich vage und uneindeutige – Weise seiner fotografischen Übertragung verweist. Dass die vier auf dem Foto in eine unbestimmte Ferne schauen, so wie man in eine vergangene Zeit zurückschaut, schien mir auch sehr passend.

Ihr Buch schlägt einen weiten Bogen, von der Historienmalerei des 19. Jahrhunderts über die analoge Fotografie bis zum Film und schließlich zur digitalen Social-Media-Welt der Gegenwart. Hatten sie beim Schreiben nicht Angst den Faden zu verlieren?

Ja, das war eine ständige Herausforderung. Historischer Kontext, Funktion und Bedeutung der im Buch besprochenen Bilder sind äußerst disparat. Das reicht von Gemälden der Napoleonischen Kriege über die Fotos der Wehrmachtsausstellung bis hin zur Retroästhetik von Hipstamatic. Mit der Aufeinanderfolge der Bilder ist aber keineswegs die Behauptung verbunden, dass sie einander ähneln oder die dargestellten Ereignisse miteinander verglichen werden sollen. Das wäre eine äußerst problematische Nivellierung ihrer verschiedenen Funktionen und Kontexte. Was die Fallstudien hingegen zusammenhält, ist der Umstand, dass jeweils die gleiche Frage an sie gerichet wird: wie positioniert sich dieses Bild in der Zeit? Wie gestaltet es seinen Ort zwischen einer Vergangenheit, die als solche unwiederholbar ist und einer Gegenwart, in der man sich dennoch an das vergangene erinnern will? Das Buch liefert keine chronologische Erzählung von der Historienmalerei bis zum Film, eher ist es eine Monatge von Fallstudien, die durch die gemeinsame Fragestellung zusammenhängen. Die Grundthese ist, dass verschiedene Medien – konkret: Malerei, Fotografie und Film – sich jeweils durch eigene Möglichkeiten, aber auch eigene Grenzen der Darstellung von Geschichte auszeichnen. Die Malerei zum Beipiel kann jede beliebige Szene der Geschichte nachträglich imaginieren. Die Fotografie kann das nicht: die Vergangenheit lässt sich nicht fotografieren. Fotografieren lässt sich nur, was gerade jetzt geschieht, historich werden Fotos deshalb immer erst nachträglich. Der Film wiederum verfügt über die Möglichkeit der technischen Animation der Bilder, was wiederum eine ganz andere Form der Vergegenwärtigung ermöglicht. 

Sie beginnen Ihr Buch mit einer aufmerksamen Lektüre von Details. Details, die in der Historienmalerei eine wichtige Rolle spielen. Aber auch in der Fotografie geht es immer wieder um Details: Hitler in der Menge der Kriegsbegeisterten 1914 …

Das Foto, auf das Sie anspielen, stammt von Heinrich Hoffmann. Es wurde berühmt, weil es in der anonymen Menschenmenge, die sich im August 1914 am Münchenr Odeonsplatz zur Feier der Mobilmachung zum Ersten Weltkrieg versammelt hat, angeblich auch den zukünftigen Reichskanzler Adolf Hitler zeigt. Vermutlich ist das Bild eine nachträgliche Retusche Hoffmanns. Interessanter als diesen Umstand finde ich aber die Frage, welches fotografische Potenzial Hoffmann mit seiner Retusche imitiert. Gemäß dieser Dramaturgie erhält das Foto seine Bedeutung erst nachträglich: das historische Bild von 1914 zeigt Hitler als völlig Unbekannten, einen unter Tausenden von Statisten der Weltgeschichte, der sich durch nichts von den anderen anonymen Personen im Bild unterscheidet. Diese Kontigenz des Historischen interssiert mich: was im Augenblick der Aufzeichnung ein nebensächliches nichtssagendes Detail unter tausend anderen Details war, kann im Rückblick zur Hauptsache werden. Dazwischen liegt eine Zeit der Latenz, in der das Foto seine spätere Zeugnisfunktion gewissemaßen schon stumm gespeichert hat, jedoch ohne dass jemand sie hätte entziffern könnnen.

Details sind in vielen Bereichen der Geisteswissenschaften schlecht beleumundet, wenn es um die Rekonstruktion des großen Ganzen geht …

Das große Ganze ist vielleicht eher das Metier eines Gottes. Ich wüßte jedenfalls nicht, von wo aus man es als schreibendes Subjekt in den Blick bekäme. Solche Großentwürfe finde ich nur dann interessant, wenn sie – wie etwa Niklas Luhmann in seiner systmetheoretischen Beschreibung der Gesellschaft – den eigenen, partikularen und kontigenten Beoabchtungsstandpunkt mitreflektieren, ihren Anspruch, das große Ganze zu erfassen, also zugleich erheblich relativieren.

Die Fotografie ist, könnte man vielleicht sagen, die Summe von Details. Viele davon sind vollkommen unbeabsichtigt ins Bild geraten …

Gerade das macht die Fotografie für die Darstellung des Vergangenen ja so interessant – wie bereits William Henry Fox Talbot 1844 feststellt, wenn er im Pencil of Nature notiert, einer der Reize der Fotografie bestehe darin, dass die Kamera Dinge registriere, die der Fotograf selbst während der Aufnahme nicht gesehen hat; „unconsciously recorded“ ist Talbots schöne Formulierung. Es gibt zahlreiche Kontexte, in denen dieses überschüssige, zufällig mit aufgezeichnete Detail keinerlei Rolle spielt, beispielsweise in den meisten Erscheinungsformen der künstlerischen Fotografie. Hier geht es ja auch gerade um die aktive ästhetische Gestaltung des Bildes durch seinen Produzenten. Deshalb würde ich auch nicht sagen, dass die Aufzeichung des Beiläufigen und Kontingenten kategorisch zur Bestimmung der Fotografie gehört (die eben auch gar kein übergreifendes, alle Genres umfassendes ‚Wesen‘ besitzt). Aber für die Frage nach der historischen Zeugenschaft der Bilder ist der Aspekt des beiläufig Mit-Gezeigten, des noch ‚sinnlos‘ Erfassten und Nicht-Intendierten zentral.

Gleich in der Einleitung sprechen sie an, was Ihr Buch nicht sein will: nämlich ein weiterer Beitrag zum Themenkomplex „Bilder als Quelle“. Ihr Ziel sei nicht, sagen Sie, den Schleier beiseite zu schieben, um den Blick auf eine dahinter liegende Wahrheit zu eröffnen. Sie plädieren vielmehr für einen skeptischen Blick auf die Bildmedien.

Ja, skeptisch. Aber zugleich auf eine andere Weise als es immer wieder beschrieben wird. Dass Fotos lügen können, dass sie manipulieren und ideologisch durchsetzt sind, haben wir inzwischen verstanden. Das muss meiner Ansicht nach nicht immer wieder neu demonstriert werden. Gibt es überhaupt noch Personen, die an die Objektivität der Fotografie glauben? Ich glaube kaum. Trotzdem wird diese Vorstellung immer wieder wie ein Mantra bemüht, um dann noch einmal erfolgreich das Gegenteil demonstrieren können. Mich interssiert eher die Frage, wie und warum manche Bilder ihre Bedeutung und ihre Wirkung trotz unserer aufgeklärten Bilderskepsis nicht eingebüßt haben und die Routinen ihrer Entlarvung gleichsam überleben. Ich finde es sehr wichtig, dass die Geschichtswissenschaft sich längerem zunehmend auch mit Bildern als Quellen beschäftigt. Von den entsprechenden Arbeiten habe ich vieles gelernt. Ich finde diese Beschäftigung lediglich dann einseitig, wenn sie Fotografien auf ihre ideologischen oder propagandistischen Funktionen reduziert, statt auch danach zu fragen, welches positive Potenzial Fotos für unser historisches Gedächtnis besitzen.

Siegfried Kracauer spricht von der Doppelbedeutung fotografischer Bilder: diese halten etwas fest und zugleich bringen sie es zum Verschwinden, sich erzeugen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit gleichermaßen.

Das ist eine der zentralen Figuren des Buches: das Foto zeigt Vergangenes, aber es macht dieses Vergangene nicht lebendig. Vielmehr bestätigt es sein Vergangensein. Diese zweifache Bestimmung halte ich für essentiell, wenn man über Fotos als historische Zeugnisse spricht. Daher spielt neben Kracauer auch Roland Barthes eine entscheidende Rolle im Buch. Die helle Kammer wurde häufig als eine Art Metaphysik der Fotografie mißverstanden. Barthes sagt aber nicht, die Fotografie mache das Vergangene vor unseren Augen wieder präsent. Vielmehr bestätigt sie das Gewesensein des Dargestellten und damit zugleich seine Unwiederholbarkeit.

Als im Zuge der Debatten um die Wehrmachtsausstellung die Verwendung von Fotografien der Kritik ausgesetzt war, haben sich viele Historikerinnen und Historiker wieder von der Fotografie verabschiedet, die als heikles Medium galt, mit dem man sich „die Finger verbrennen“ kann.

Das kann ich nicht beurteilen. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass manche Fotografien mit dem Quellenbegriff der Geschichtswissenschaft schwer zu fassen sind. Die Rezeption der Wehrmachtsausstellung ist ja Gegenstand eines eigenen Kapitels im Buch. Mein Eindruck ist, dass die zweite Version der Ausstellung, die ja sehr stark auf die rationale Kontrolle durch Texte setzt, die Wirkung und Bedeutung der Bilder unterschätzt, bzw. diese durch Text zu kanalisieren versucht. Dass man in der zweiten Ausstellung irrtümlich falsch übernommmene Bildunterschriften korrigiert hat, war selbstverständlich richtig, notwendig und verdienstvoll. Zugleich lassen sich Fotos durch Texte nicht vorschreiben, was sie zeigen und wie sie wirken sollen.

Sie plädieren in einem zentralen Kapitel Ihres Buches, das sich mit der Rolle von Fotodokumenten aus den nationalsozialistischen Konzentrationslagern beschäftigt, dafür, den Begriff der fotografischen Zeugenschaft weiter zu fassen als dies in der herkömmlichen Historiografie üblicherweise gemacht wird. Es gibt auch bedeutsame Bilder, die fast nichts zeigen.

Ja, richtig. Die Zeugenschaft eines Bildes ist keine bloße Frage der ‚Information‘, auch keine des ‚Beweises‘ im juristischen Sinne. Das hat Georges Didi-Huberman in seiner Deutung der vier heimlich aufgenommen Fotografien aus Auschwitz sehr deutlich gezeigt. Diese vier Fotorafien sind strenggenommen nicht ‚informativ‘. Auf die Fragen ‚wer?‘ ‚was?‘ ‚wann?‘ ‚wo?‘ geben sie keine Antwort. Eines der Bilder zeigt – bis zur Unkenntlichkeit verwackelt – die Bäume über Birkenau. Der Häftling, der diese Aufnahme im Freien und unter ständiger Beobachtung durch die SS gemacht hat, konnte unmöglich durch den Sucher der Kamera schauen und musste das Bild aus der Hüfte schießen. Auch wenn dieses Foto fast nichts Erkennbares – ‚erkennbar‘ im Sinne eines auf positives Wissen geeichten Quellenbegriffs – zeigt, ist es trotzdem ein historisches Zeugnis: ein Akt des Widerstands, Zeugnis der verzweifelten Situation, in der es aufgenommen wurde. „Auch diese Dinglichkeit hat Anteil am Historischen“, schreibt Didi-Huberman dazu in Bilder trotz allem. Eine weitere Dimension kommt hinzu, und auch diese ist unter dem Paradigma der ‚Information‘ oder des ‚Beweises‘ nicht zu fassen. Bei den vier Fotografien vom Sommer 1944 handelt sich um physiche Reste, „Fetzen“, wie Didi-Huberman schreibt. Die Ereignisse sind vorbei, wahrscheinlich sind sie auch unvorstellbar. Zugleich besitzen wir in Gestalt dieser Fotos jedoch „Fetzen“ dieser Ereignisse, einen matierellen Rest, der aus der Vergangenheit in die Gegenwart hereinragt.

Das heißt, der affektive Gehalt von Fotografien ist wichtig. Die strenge Sachlichkeit, mit der die zweite Wehrmachtsausstellung die gefürchtete Suggestivkraft der Fotografie bannen und einhegen wollte, ist also nur eine Seite der Medaille?

Ja, so sehe ich es. Füge aber auch sofort zu, dass die Suggestivkarft mancher Fotos, etwa der schrecklichen Hinrichtungsbilder, die deutsche Wehrmachtssoldaten in ihren Geldbörsen bei sich getragen haben, für sich genommen natürlich nicht ausreicht. Ich finde es wichtig, Text und Bild, statt sie, wie es oft geschieht, gegeneinander auszuspeielen, in ihren wechselseitigen Bezügen zu sehen. Der‚pictorial turn‘ in seinem mitunter paragonehaften Positionierung des Bildes gegen die Funktionsweise der Sprache, war hier auch nicht immer hilfreich. Das Foto braucht eine diskursive Rahmung. Aber umgekehrt braucht auch der Text ein Wissen darüber, was diese Rahmung gerade nicht fassen kann.  

Kommen wir abschließend noch kurz zum Thema Farbe, das ja bereits im Titel des Buches anklingt. Sie beschäftigen sich nur ganz am Rande mit der Farbfotografie, dafür aber ausführlich mit der nachkolorierten Fotografie, wie auch mit dem nachkolorierten Film. Besonders irritierend finde ich die Einfärbung der schwarz-weißen Fotografien, die Häftlinge im Konzentrationslager Buchenwald zeigen.

Diese Nachkolorierungen historischer Schwarz-Weiß-Fotografien sind eigentümliche Versuche der Wiederbelebung. Die zugrunde liegende Gleichung besagt: die Wirklichkeit hat auch schon früher in Farbe stattgefunden, also sind die überlieferten Schwarz-Weiß-Bilder falsch und defizitär, erst das digital nachkolorierte Bild stelt die ursprüngliche Gestalt des Vergangenen wieder her. Aber was genau soll hier in seinem Ursprungszustand ‚wiederhergestellt‘ werden? Das Blau des Himmels über Dünkirchen im Sommer 1944? Abgesehen davon, dass diesem Ideal der Vergegenwärtigung eine erstaunlich naive Vorstellung von der Unmittelbarkeit medialer Übertragung zugrunde liegt, halte ich es auch historiographisch für falsch. Meiner Ansicht nach müsste jede komplexe Auseindersetzung mit Geschichte dem Umstand Rechnung tragen, dass die Vergangenhiet nicht wiederholbar ist. Genau genommen ist sie nicht einmal beobachtbar: Beobachten lässt sich nur, was gerade jetzt geschiehet.  Das Vergangene lässt sich daher immer nur nachträglich, indirekt, auf dem Umweg über Bilder, Erzählungen oder physische Fragmente erfasssen. Hier berühren wir den wahrscheinlich kontroversesten Teil des Buches. Der Impuls, die Distanz zur Geschichte durch so etwas wie unmittelbare Erlebbarkeit zu ersetzen, leuchtet mir nicht ein.

Sie sehen diese Praxis des Kolorierens also mit Skepsis. Aber warum genau? Das Vorhaben, historische Szenen zu beleben und uns Betrachterin, als Betrachter in die Vergangenheit zu katapultieren, leuchtet Ihnen nicht recht ein. Ihr zentrales Argument ist, dass diese Form der „visuellen Reanimation“ die Distanz, die jedem historischen Foto eigen ist, aufheben will.

Wie wäre es möglich, sich in die Vergangenheit zu katapultieren? Das Vergangene entzieht sich, auch wenn man es angeblich reanimiert. Etwas historisch zu sehen, schreibt die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch zu Recht, heißt, etwas aus der Distanz zu sehen. Das bedeutet keineswegs, dass man sich die Geschichte vom Leib halten und das Vergangene auf sich beruhen lassen will. Im Gegenteil: Distanz ist nötig, um überhaupt etwas zu sehen. Wer die Distanz zur Geschichte beseitigen will, zielt letztlich darauf, das Historische selbst zu beseitigen und sich selbst und die eigene Gegenwart an ihre Stelle zu setzen. Den dahinter stehenden Wille zur Angleichung des Vergangenen an unsere eigenen Sehgewohnheiten, Bedürfisse und Wünsche sehe ich als Willen zur Beseitigung von Differenz, zur Aufhebung des Ungewohnten und Fremden, zum Beispiel der Fremdheit einer historischen Schwarz-Weiß-Fotografie im Kontext heutiger Bildwelten.

 Sie zitieren den schönen Satz von Ulrich Raulff, wonach Geschichte in ihrer kürzesten Definition das sei, „womit wir nicht fertig werden“.

So wie ich diesen Satz verstehe, hat er viel mit dem zu tun, worüber wir gerade gesprochen haben. Zum einen meint Raulff hier sicherlich, dass die Deutung der Vergangenheit schon deshalb an kein Ende kommt, weil jede Zeit die ihr überlieferten Zeugnisse wieder neu und anders deutet. Insofern ist die Geschichte unabgeschlossen. Dass wir mit der Geschichte „nicht fertig werden“, kann zusätzlich aber auch bedeuten, dass die Geschichte nicht einfach spurlos verschwunden ist, sondern in Form überlieferter Bilder, Erinnerungen, Texte, Fragmente in der Gegenwart noch immer vorhanden ist und gerade durch ihr Anderssein, ihre Differenz zum Heutigen Unruhe erzeugt. Das Vergangene ist virulent, weder spurlos verschwunden noch lebendig. Man kann vielleicht sogar sagen, dass es allen Versuchen, es zu verstehen und einzugemeinden, eine Art von Widerstand entgegensetzt.

Im Grunde kann man Ihre Skepis in Bezug auf die Farbe ausweiten. Der Befund des Buches ist ein durchaus skeptischer. Bilder sind immer uneindeutig und auch die Verfahren ihrer Authentizifierung und der historischen Aneignung schaffen meist nicht die erhoffte Klarheit, sondern eröffnen neue Fragen und Unsicherheit. Die amerikanischen Fotokünstler Larry Sultan und Mike Mandel haben in den 1970er Jahren das Dogma der fotografischen Evidenz dadurch radikal in Frage gestellt, dass sie Fotografien aus der Sphäre der polizeilichen, juristischen und sachverständigen Beweisführung entkontextualisieren. Was bleibt, sind surreale, kaum verständliche Bildspuren. Sie führen diesen Extremposition des Relativismus an, aber soweit ich sehe, folgen sie ihr nur ein stückweit, oder?

„Kaum verständliche Bildspuren“, das trifft es sehr gut, finde ich. Sobald man es mit Spuren zu tun hat, muss es auch eine Herkunft dieser Spuren geben, ganz gleich, ob man diese Herkunft erfasst oder nicht. Daher hat mich gerade immer auch die ‚Sinnlosgkeit‘ vieler Aufzeichnungen interessiert – wie im Fall der erwähnten Details, die ins Bild gelangt sind, ohne dass jemand das im Augenblick der Aufnahme gewollt oder wahrgenommen hätte und ohne dass über ihre Bedeutung oder auch ihre Bedeutungslosgkeit schon entschieden worden wäre. Ich wiederhole noch einmal: für einen großen Teil der fotografischen Bildproduktion ist dieser Aspekt ganz irrelevant. Aber für die Frage der historischen Zeugenschaft ist es von Interesse,  dass es Aufzeichnungen gibt, die der Zuschreibung von Bedeutung vorausgehen.  Ob ein Foto verständlich und entzifferbar ist oder nicht, spielt hier zunächst überhaupt keine Rolle. Man kann die Arbeit von Sultan und Mandel, wie Sie zu Recht sagen, als Ausdruck eines radikalen Relativismus sehen. Sie wäre dann eine Illustration der verbreiteten Überzeugung von der Referenzlosigkeit fotografischer Bilder: Das Foto ist nichts, erst die Zuschreibung von Bedeutung  macht es zu etwas. Das glaube ich nicht. Es gibt eine Form von Referenz, die der Zuschreibung vorausgeht – auch wenn man sie nicht versteht. Eine Art Nullpunkt der Bedeutung. 

Es bleibt also noch Hoffnung, dass die Fotografie mehr ist als die Summe frei flottierender Zeichen, dass fotografische Bilder doch etwas von der Vergangenheit zu sehen geben, auch wenn es oft nicht dass ist, was wir uns erhoffen?

Wenn historische Fotografien nichts anderes wären als eine Ansammlung frei flottierender Zeichen, fände ich es längerfristig nicht besonders interessant, sich mit ihnen zu befassen. Es bliebe dann ja nur die routinierte Kritik ihrer Künstlichkeit, ihrer ideolgischen Verstrickung, ihrer sozialen Konstruiertheit. Diese Kritik ist berechtigt und notwendig. Sie erfasst aber nicht, was an historischen Fotos fasziniert und warum man mit ihnen nicht fertig wird.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

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