Burcu Dogramaci, Helene Roth
Fotogeschäfte. Globale Infrastrukturen der Fotografie – ein neues Forschungsfeld
Editorial
Erschienen in: Fotogeschichte 178, 2025
Obgleich Fotogeschäfte für die Geschichte der Fotografie eine zentrale Bedeutung hatten, sind sie bislang als Knotenpunkte im Geflecht zwischen der Herstellung von Fotobedarf und deren Verkauf und Auslieferung an Verbraucher:innen kaum beachtet worden. Fotogeschäfte sind Institutionen der Versorgung und der Dienstleistung, über die Kameras und andere Fototechnik, Filme und weitere Materialien bezogen werden können und die Annahme- und Verteilungsprozesse der Filmentwicklung übernehmen. Oftmals bieten Fotogeschäfte weitere Leistungen an, darunter das Entwickeln von Filmen, das Erstellen von Passfotografien oder den Handel mit gebrauchten Geräten. Fotogeschäfte sind die Multiplikatoren von fotografischen und fototechnischen Innovationen. Damit gehören sie zu den Infrastrukturen der Fotografie. Infrastrukturen (von lateinisch infra und structura) beziehen sich in ihrer etymologischen Bedeutung allgemein sowohl materiell auf Netze (Straßen, Schienen, Wasserwege) als auch auf Ver- und Entsorgungseinrichtungen (Energie, Wasser, Kommunikation), umfassen aber auch als immaterielle Infrastrukturen Dienstleistungen, Interaktionen, Information und Verbreitung.[1]
Fotogeschäfte als soziale Kontaktzonen, als Orte der Interaktion und Verteilung, als Dienstleister, technische und materiale Versorger können folglich als zentral für die Infrastrukturen der Fotografie verstanden werden. Fotogeschäfte sind dabei auch private Institutionen, an denen sich technische Entwicklungen und ästhetische Präferenzen manifestieren – etwa in der Entscheidung für Schwarzweiß- oder Farbfotografie, in Motiven und thematischen Spektren der von Fotograf:innen zur Entwicklung abgegebenen Aufnahmen. Fotogeschäfte waren Motoren für die Sichtbarkeit, Verbreitung und Anerkennung dieser Bildkunst. In historischen Stadtfotografien sind immer wieder Fotogeschäfte in den Ladenzonen von Städten zu erkennen, wie hier auf einer Postkarte des mittelalterlichen Hoppener Hauses in Celle. Fotogeschäfte gehörten lange Zeit (und teilweise bis heute) zum alltäglichen Straßenbild, seit dem frühen 20. Jahrhundert versorgten sie Amateurfotograf:innen mit technischem und materiellem Fotobedarf.
Vielleicht sind Fotogeschäfte die Seismografen von Paradigmenwechseln in der Geschichte der Fotografie – etwa im Übergang von Platten- zu Rollfilmkameras oder auch von analoger zur digitalen Fotografie. Gerade diese tiefgreifenden technischen Veränderungen hatten Auswirkungen auf die fotografischen Infrastrukturen. Spätestens mit der Verbreitung der digitalen Fotografie verringerte sich die Anzahl an und das Angebot von Fotogeschäften. Denn für das Fotografieren ist durch die Digitalisierung kein Film und keine Filmentwicklung vonnöten, und das Smartphone hat den Fotoapparat vor allem in der Amateurfotografie ersetzt. Insofern ist unsere Beschäftigung mit dem Thema Fotogeschäfte auch eine Auseinandersetzung mit einer Institution, die vom Verschwinden bedroht und deren Zukunft ungewiss ist. Für dieses Themenheft führten wir Gespräche mit zwei Betreiber:innen von Fotogeschäften in München: Christina Hofmann vom Foto Kellner und Sinan Yalcin mit seiner Tochter Aylin Pfleger von Foto Presto. Wir fragten nach dem Alltag, der Kundschaft, nach Veränderungen der vergangenen Jahre und nach der möglichen Zukunft der Branche.
Diese Gespräche vermittelten auch, dass Fotogeschäfte soziale Räume der Interaktion, des fachlichen Austauschs und weit darüber hinaus sind. In seinem Beitrag geht Stefan Zimmermann auf ein Fotogeschäft in der niedersächsischen Kleinstadt Winsen/Luhe ein. Der Beitrag verbindet die Geschichte des Fotogeschäfts mit der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der jungen Bundesrepublik. Zugleich ordnet Zimmermann das Thema in den Kontext der „Period Rooms“ ein, also der musealen (Re-)Konstruktion eines Epochenraums. Anna D. Peiter macht in ihrem Visual Essay anhand von Fotografien aus dem Bildarchiv Deutsche Fotothek auf Genderrollen in Fotogeschäften aufmerksam. Die über eine Stichwortsuche („Fotogeschäfte“) gefundenen Aufnahmen analysiert Peiter und zeigt auf, dass Frauen zwar prominent als Subjekte in Erscheinung treten, ihnen jedoch meist technische und ökonomische Fähigkeiten abgesprochen werden. Anhand von zwölf Beispielen erörtert Peiter die unterschiedlichen sozialen Rollen von Frauen vor und in Fotogeschäften.
Die soziale Funktion der Fotografie findet auch dort besondere Betonung, wo Fotogeschäfte in neuen Communities eröffnet werden. Es ist zu beobachten, dass Neugründungen beispielsweise an Orten stattfinden, an denen sich Hinzugezogene ansiedeln. Doug Saunders beschreibt diese städtischen Ankunftsorte als „Arrival Cities“[2]. Es handelt sich um Nachbarschaften mit Anziehungskräften für Migrant:innen, auch deshalb, weil sich schon andere vor ihnen dort niederließen, und mit ihrer Ankunft verändern sich die Stadtviertel: „Reine Wohnstraßen können [...] von den Migranten in Wohnstraßen mit Gastronomie- und Einzelhandelsbetriebe verwandelt werden, aus dem Erdgeschoss eines Wohnblocks können Flächen für Handel und Dienstleistung werden, eine Ecke oder ein öffentlicher Platz kann als informelle Einzelhandelsfläche in Gestalt eines Marktes genutzt werden.“[3] In diesen Ladenzonen etablierten sich neue Fotogeschäfte, die von Migrant:innen übernommen oder ins Leben gerufen wurden. Zu nennen sind Fotogeschäfte wie Foto Selçuk in Berlin-Kreuzberg und Foto Adnan im Münchner Bahnhofsviertel oder auch Foto Presto (siehe den Beitrag dazu im Heft). Da die Selbstständigkeit für viele Migrant:innen eine wichtige Möglichkeit für den Broterwerb war, boten Fotogeschäfte ein bedeutendes Arbeitsfeld. Sprachkenntnisse der Betreiber:innen jenseits der deutschen Sprache mögen wiederum jene angezogen haben, die in ihrer Muttersprache kommunizieren wollten. Zudem ist das Fotografieren ein wichtiger Bestandteil migrantischer Selbstäußerung. Insofern sind Fotogeschäfte auch aus postmigrantischer Perspektive ein Thema, das neue Horizonte eröffnen kann. Fotogeschäfte können Indizien einer durch Migration geformten Gesellschaft sein und sind Formen des place-making. Wenn Migrant:innen sich einen Platz schaffen möchten, dann bauen sie eigene Infrastrukturen der Versorgung oder Freizeitgestaltung auf.
Auch für das historische Exil sind Fotogeschäfte wichtige Institutionen. Denn diejenigen, die nach 1933 vor nationalsozialistischer Verfolgung fliehen mussten, konnten oft ihre Kameras mitnehmen. Die Weiterführung der Fotografie war nicht zuletzt deshalb möglich, weil Fotogeschäfte globale Verbreitung hatten. Davon sprechen zahlreiche Fototaschen in den Nachlässen von Emigrant:innen, gleich ob in London, New York, Ankara oder Jersey. So befinden sich Fototaschen im Nachlass des nach Ankara emigrierten Altphilologen Georg Rohde. Der Standort des Fotogeschäfts Foto Naim Gören in der Bankalar Caddesi lag im Neuen Ankara, also jenem unter der Regierung Atatürk errichteten, neu ausgebildeten Teil der Hauptstadt, in dem sich Ministerien, Hochschulen, Geldinstitute, aber auch Geschäfte des alltäglichen Bedarfs ansiedelten.[4] Auch im Nachlass der auf Jersey lebenden französischen Fotograf:innen und Schriftsteller:innen Claude Cahun und Marcel Moore finden sich zahlreiche Fototaschen, die auf Stationen des Lebens und Arbeitens unterwegs verweisen. In ihrem Exil auf der Insel Jersey waren die Fotoläden Boots, Senett & Whinnerah und Le Cheminant in der Inselhauptstadt St. Helier wichtige Dienstleistungseinrichtungen, um die fotografische Produktion und künstlerische Arbeit auch in der Abgeschiedenheit des Insellebens weiterzuführen – so lange, bis die Kanalinsel von deutschen Truppen besetzt, das Fotografieren eingeschränkt und verboten wurde.[5]
In New York wiederum war das 1936 vom emigrierten Paar Leo und Carrie Pavelle gegründete Fotogeschäft Pavelle maßgeblich am infrastrukturellen Ausbau der Farbfotografie beteiligt.[6] In den 1940er Jahren entwickelte der New Yorker Betrieb das erste vollautomatische Verfahren zur Bildvergrößerung und zum Druck von Farbabzügen in den Vereinigten Staaten.[7] Pavelle bezog hierbei Produkte der US-amerikanischen Firma Ansco.[8] Annoncen in Zeitschriften und Zeitungsanzeigen warben Mitte der 1940er Jahre für die Produktvielfalt und den schnellen Entwicklungsservice innerhalb von zehn Werktagen von Pavelle Color Prints. Neben Abzügen in den Größen 3“ x 4,5“ (7,6 x 11,4 cm) und 5“ x 7“ (12,7 x 17,7cm) von 35mm Ansco, Kodachrome oder Bantam Farbfilme waren ab 1946 auch Vergrößerungen in den neuen Formaten 8“ x 10“ (20,3 x 25,4 cm) erhältlich.[9] Der „Pavelle Color Print Service“ konnte zudem von anderen Fotogeschäften US-weit vertrieben werden.[10] Möglich war dies über automatisierte Farbkontrollen bei den Druckmaschinen, die bis zu 20.000 Farbabzüge am Tag produzierten.[11] Damit gelang es Pavelle Color, innerhalb kurzer Zeit den Bedarf von Farbabzügen für den Privatgebrauch wie auch für die Werbung und Industrie zu decken, in dem sie eine hohe Auflage zu geringen Preisen anboten.
Gleichzeitig können Fotogeschäfte ein Gradmesser für die Entrechtung, Verfolgung und Vertreibung der NS-Zeit sein. Noch fehlt eine Übersicht zu Fotogeschäften, die von jüdischen Betreiber:innen geführt wurden, die nach 1933 schließen und „arisiert“ wurden. Zugleich kann von Fotogeschäften auch ein widerständiges Handeln ausgehen. In der Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur wird ein Exponat verwahrt, dass diese politische Funktion von Fotogeschäften verdeutlicht. Eine rote Agfa-Fotopapiertüte, vermutlich in einem Geschäft erworben, wurde für den Transport einer Tarnschrift verwendet. Sie enthält Auszüge aus Heinrich Manns Buch Mut aus der Schriftenreihe der deutschen Opposition und Flugschrift. In diesem Fall wird das Fotogeschäft (vielleicht wider Willen) zur Versorgungseinrichtung für einen konspirativen Vorgang in der Zeit des Nationalsozialismus.[12]
Dieses Themenheft der Zeitschrift Fotogeschichte ist ein Beitrag zur Erschließung eines bislang kaum beachteten Forschungsfelds. Noch existieren keine umfassenden Studien zur (globalen) Etablierung und Geschichte von Fotogeschäften. Es ist eine zukünftige Aufgabe für die Fotoforschung, diese nach Daten, Akteur:innen, Städten und Stadtvierteln, nach Aus- und Vorbildung von Inhaber:innen von Fotogeschäften, sozialer Herkunft und geschlechtsspezifischen Bedingungen zu untersuchen. Die Beschäftigung mit Fotogeschäften kann auch für eine (post-)koloniale und (post-)imperiale Geschichte der Fotografie, ihren Gerätschaften und Materialien – Kameras, Chemikalien, Fotopapiere – erhellend sein. Diese postimperialen und postkolonialen Schwerpunkte bilden sich in drei Beiträgen dieses Themenhefts ab: Clara Bolins Beitrag zeigt am Beispiel des Münchner Fotogeschäfts Kieser & Pfeufer auf, wie fotografische Infrastrukturen mit kolonialen Handelsstrukturen, Hierarchien und Genderrollen in den 1920er und 1930er Jahren verwoben waren. Kieser & Pfeufers Fotogeschäft vertrat dabei eine wichtige globale Funktion im Kontext der Missionsarbeit: Es war nicht nur für viele Missionar:innen eine der letzten Stationen vor ihrer Abreise ins Ausland, an denen sie sich mit Material ausstatteten. Zudem zeigen Korrespondenzen auf, dass das Fotogeschäft eine wichtige globale Versorgungseinrichtung für Missionar:innen auf verschiedenen Kontinenten darstellt. Diese bestellten beispielsweise von Tansania aus Fotomaterial oder schickten es zum Entwickeln nach München. Die fotografische Versorgung der Missionar:innen, sei es in Tansania oder auch bei Kieser & Pfeufer in München, wurden dabei vor allem von Frauen geleistet.
Helena Holzbergers Aufsatz widmet sich hingegen den radikalen Veränderungen der fotografischen Infrastrukturen nach Zusammenbruch des russischen Zarenreiches und der Etablierung der Sowjetunion. Die Verstaatlichung der Institutionen der Fotografie betraf auch die Fotogeschäfte und hatte zur Folge, dass nur privilegierte, staatsnahe Gruppen überhaupt fotografieren konnten. Holzberger kommt zu dem Schluss, dass die Fotogeschäfte der vorrevolutionären Zeit wie der Zwischenkriegszeit als Ergebnis unter anderem deutsch-russischer Verflechtungen zu verstehen sind und daher nur in einer transnationalen Erzählung ganz erfasst werden können. Elisaveta Dvorakk wiederum untersucht die Geschichte fotografischer Infrastrukturen im Libanon zwischen Sidon und Beirut, indem sie die in der Arab Image Foundation überlieferten Aufnahmen des libanesischen Fotografen Hashem el Madani aus den 1940er und 1950er Jahren auswertet. El Madanis Passbildaufnahmen für palästinensische Geflüchtete verweisen wiederum darauf, dass sich Flucht- und Migrationsbewegungen unmittelbar in der Geschichte der Fotografie und ihren Infrastrukturen abbilden. Fotogeschäfte als Versorgungs- und Dienstleistungseinrichtung von und für Migrant*innen können nicht zuletzt neue Perspektiven auf Fragen von Zugehörigkeit und place-making eröffnen.
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[1] In jüngster Zeit sind Infrastrukturen umfassender kunst- und medienwissenschaftlich erforscht worden, siehe u.a. Martin Beck, Beatrice von Bismarck, Sabeth Buchmann und Ilse Lafer (Hg.): Broken Relations: Infrastructure, Aesthetics, and Critique, Leipzig 2022; Shannon Mattern: The Pulse of Global Passage: Listening to Logistics, in: Assembly Codes: The Logistics of Media, hg. von Matthew Hockenberry, Nicole Starosielski und Susan Zieger, New York 2021, S. 75–90.
[2] Vgl. Doug Saunders: Arrival City: How the Largest Migration in History is reshaping Our World, London 2010.
[3] Doug Saunders: An der Schwelle: Migrantenquartiere und die Architektur der Inklusion, in: Making Heimat. Germany, Arrival Country, hg. v. Peter Cachola Schmal, Oliver Elser und Anna Scheuermann, Ausst.-Kat. Deutscher Pavillon auf der 15. Internationalen Architekturausstellung 2016 – La Biennale di Venezia, Venedig 2016, S. 23–39, hier S. 29.
[4] Vgl. Burcu Dogramaci: Kulturtransfer und nationale Identität. Deutschsprachige Architekten, Stadtplaner und Bildhauer in der Türkei nach 1927, Berlin 2008.
[5] Die Fototaschen befinden sich im Nachlass von Cahun und Moore im Jersey Archive in St. Helier. Cahun und Moore waren im Widerstand gegen die deutschen Besatzer, wurden gefasst und zum Tode verurteilt. Sie entgingen der Vollstreckung, weil der Bailord von Jersey sich für sie einsetzte. Mit Cahun und Moore auf Jersey setzt sich Burcu Dogramaci derzeit in ihrem Forschungsprojekt „Insel-Exil“ auseinander.
[6] Zu Pavelle vgl. George Gilbert: The Illustrated Worldwide Who’s Who of Jews in Photography, New York, 1996, S. 292; L. B. White: He Turned a Hobby into a Big Business, in: Popular Science, Vol. 159, N. 4, 1951, S. 131–133, 246, 250 und den Eintrag im METROMOD Archive, archive.metromod.net/viewer.p/69/2948/object/5145-11016582 (Zugriff: 20.6.2025).
[7] Vgl. Kalton C. Lahue und Joseph A. Bailey: Glass, Brass, and Chrome: The American 35mm Miniature Camera, Oklahoma 1972, S. 111; White, (wie Anm. 6), S. 133.
[8] Vgl. White, (Anm. 6), S. 246.
[9] Vgl. Anzeige The Brooklyn Citizen, 26.6.1946, S. 5.
[10] Vgl. Anzeige The Morning News, 25.1.1946, S. 23.
[11] Vgl. George Green: Camera Eye, in: The Boston Globe, 24.7.1946, S. 10.
[12] Es scheint verbreitet gewesen zu sein, Fototaschen zum Transport von Tarnschriften zu verwenden. Siehe dieses Beispiel der KPD: www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/E7GUTBC6UOS5EBGXDK6Q3X5X3KRNX3D3 (Zugriff: 20.6.2025). Wir danken Nicolas Paulus für diesen Hinweis.